Volltext: Nr. 36 (36. 1919)

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für die deutschösterr. Provinz, 
Nr. 36 
w Oktober 
Linz, am 2L Tigchri ö680 
1919 
Ostjuden? 
Die jüngste antisemitische Hetze in Wien hat sich 
einen neuen Ausdruck beigelegt. Man zieht nicht mehr 
gegen das Judentum in Bausch und Bogen zu leide, 
sondern häuft offiziell alle Sünden dieser Welt nur mehr 
auf die sogenannten „Ostjuden". Der Grund ist sehr 
leicht zu sehen: Auch ein Kind kann langsam zur Er¬ 
kenntnis kommten, daß die Not der Zeit und die Juden¬ 
schaft zwei Begriffe sind, die durchaus nicht in so unbe¬ 
dingter Wechselwirkung stehen müssen, wie es die anti¬ 
semitische Propaganda glaubhaft machen wollte daß 
Kriegselend und Kriegsgewinn bei Juden und Nicht juden 
gleich verteilt sind und daß die christliche Nächstenliebe 
oder das deutsche Gemeinschaftsgefühl großer Bevölke¬ 
rungsschichten kein Hindernis ist für schamlose Aus¬ 
beutung, Korruption und sozialeVerantwortungslosigkeit. 
Es sieht auch in den Augen jener, die den Antisemitismus 
für kulturrückschrittlich halten, viel besser aus, wenn 
man nicht gegen ein ganzes Volk seine Angriffe richtet, 
sondern nur gegen staatsfremde Elemejite, die als solche 
keinen Anspruch auf Duldung und Rechte erheben 
können. 
So ist es geradezu rührend, wie man dem sogenannten 
„bodenständigen" Judentum um den Bart streicht, wäh¬ 
rend die bösen Ostler mit allem Übel bedacht werden. Es 
entbehrt nicht des humoristischen Einschlags, daß sich 
ein christlichsozialer Landtagsabgeordneter anläßlich der 
großen Kundgebung am 5. Oktober gedrängt fühlte, zum 
Lobe der einheimischen Judenschaft zu berichten, daß 
Wiener jüdische Financiers mit solchen aus Amerika 
eine großzügige finanzielle Hilfsaktion für Deutsch Öster¬ 
reich vorbereiten. Wer denkt da nicht an den Satz. Gele 
stinkt nicht! und findet es nicht komisch, daß das anti¬ 
semitische Herz gerade nur für jüdische Bankleute 
schlägt? 
Man sollte glauben, daß kein Jude, auch nicht der 
„bodenständigste",diese Liebesbezeugungen ernst nimmt. 
Die Herren, die gestern die niedrigste Hetze aller Juden 
predigten und heute nur von den Ostjuden Schlechtes 
wissen, werden morgen wieder den Rum aJ^ ^erl1, 
Die feinsinnige Unterscheidung in Ost- und \\ estjuden 
ist für den Augenblick recht praktisch und hat noch das 
Gute, daß sie ja in der Praxis sicher auch die beabsich¬ 
tigten Folgen nach .sich ziehen wird ; wenn man emma 
Aktionen gegen die Ostjuden glücklich ms W erk gesetzt 
hat werden die lieben Gesinungsgenossen sicher nur aut 
Namen und Nasenform, nicht aber auf den Heimatschein 
sehen. 
Es scheint aber doch „einheimische" Juden zu geben, 
die sich von der bestrickenden Liebenswürdigkeit und 
den unerwarteten Gunstbezeigungen der Antisemiten- 
bündler fangen lassen. Es ist das traurigste an unserer 
Situation, daß unsere gehässigsten Feinde in dem Augen¬ 
blick schon auf Bundesgenossenschaft aus unseren Reihen, 
rechnen können, in dem sie einem Teil von uns ein gnä¬ 
diges Kopfnicken gönnen. Wir müssen solche Äußerun¬ 
gen beklagen und wir müssen es geißeln und an den 
Pranger stellen, wenn unter Mißachtung der jüdischen 
Tradition sich Tendenzen geltend machen, die die Ein¬ 
heitsfront unseres Volkes bedrohen wollen. 
Es ist merkwürdig, daß gerade Juden, die früher mit 
Recht die antisemitische Verallgemeinerung am heftig¬ 
sten bekämpften, jetzt ganz gedankenlos diese Methode 
mitmachen und ganz befriedigt konstatieren, daß tat¬ 
sächlich die Ostjuden Schädlinge dee W irtschaftslebens, 
Vergifter der öffentlichen Moral usw. usw. seien. Was 
dem einen recht ist, muß wohl auch für den andern billig 
sein, und nachdrücklichst müssen wir feststellen, daß wir, 
ebenso wie bei den Angriffen, die sich gegen die gesamte 
jüdische Bevölkerung dieses Staates richten, es zurück¬ 
weisen, wenn die Verfehlungen einzelner Individuen der 
ganzen kompakten Masse der Ostjuden unterschoben 
werden. Es darf nicht sein, daß der Jude aus dem Westen, 
der Jude, der schon seit einigen Jahrzehnten m diesem 
Lande seinen Wohnsitz hat, sich an dem! allgemeinen 
Feldzug gegen seine Brüder aus dem Osten auch nur 
dadurch beteiligt, daß er selbst Mauern des Nichtver- 
stehenwollens, des Besserdiinkens zwischen sich und ihnen 
errichtet, über das Problem Ost- und Westjudentum, 
das jetzt so plötzlich durch die antisemitischen Sirenen- 
töne wieder einmal auf die Tagesordnung gesetzt ist, 
wurde schon vieles und Gründliches gesagt. Augenblick¬ 
lich legen wir den Herren, die sich so viel auf ihre Boden¬ 
ständigkeit, Westjudentum und Kultiviertheit zugute tun 
und diese Auffassung von zweierlei Spezien von Juden 
jetzt noch unter deutschvölkiseh-christlichsozialer Assi¬ 
stenz' zu einem öffentlichen Prinzip erheben wollen, nur 
die eine Frage vor, wo die Wiege eines Menschen gestan¬ 
den haben muß, um ihn zum Westjuden, also anständigen, 
oder zum Ostjuden, also niedrig gearteten zu stempeln. 
Bildet Krakau, Bielitz oder gar erst Ostrau die Grenze . 
Wie lange muß man denn hier ansäßig sein, um auch von 
den jüdischen Mitbürgern das Heimatrecht zugesprochen
	        
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