Volltext: Nr. 30 (30. 1919)

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Jüdische Nachrichten 
Nr. 30 
Schwager verliest das vom Sekretär des Jüdischen 
National-Rates Dr. Waschitz an ihn gerichtete Schrei¬ 
ben und berichtet über seinen Versuch, vom Abgeord¬ 
neten Stricker oder dem Sekretariate persönliche Infor¬ 
mationen zu erlangen. Taussig: Ich bedauere, daß der 
Herr Vorsteher diesen Gegenstand überhaupt zur Be¬ 
ratung gebracht hat; wir erkennen das Judentum nicht 
als Nation an, wir wollen keine Sonderbestrebungen. 
Als Deutschösterreicher wollen wir leben, wir blei¬ 
ben dieselben, die wir waren. Taussig bringt 
sein Befremden zum Ausdruck, daß Albrecht, der in die 
Debatte zugunsten einer aktiven Anteilnahme an den 
Wahlen eintritt, seine Gesinnung "geändert hätte; 
Albrecht tritt dQin entgegen mit dem Bemerken, daß 
er unter Beibehaltung seiner früheren Gesinnung nur 
ein Forum wünsche, das die gesamte Judenschaft ver¬ 
trete. Es lag seitens Taussig der Antrag- vor, die Ein¬ 
gabe nicht zur Verhandlung zu bringen, nachdem die 
Kultusvorstehung statutengemäß nicht das Foriim sei 
zur Erörterung politischer Fragen. Dieser Antrag wurde 
schließlich mit 8 gegen 7 Stimmen angenommen. 
2. Albrecht beantragt, den Vorsteher im Vereine, mit 
dem Tempelvorsteher mit den Vorbereitungen zu den 
Feiertagen zu beauftragen. Orlik berichtet, Gerüchte 
verlauten, daß Jörn kippur die Orgel nicht in Verwen¬ 
dung käme. Er meine, daß die Leute, die .unter Auf¬ 
wendung von Geld und Zeit von auswärts nur wegen 
der Orgel kämen, enttäuscht sein würden, außerdem 
wäre auch der Gottesdienst nicht wreihevoll. Taussig 
wirkt dahin, daß die Orgel Jom kippur „nicht wahr¬ 
scheinlich, sondern bestimmt" spiele. 
3. Schwager berichtet über die Tagung in Wien, die 
über Initiative der Linzer Kultusgemeinde für den 
19. d. einberufen wurde. In seinem Referate in Wien 
wies er auf seine Ausführungen vom 31. Oktober hin, 
wonach zu den neuen Verhältnissen Stellung zu nehmen 
wäre. Allerdings meinte damals ITofrat Kuranda, daß 
durch den Umsturz der Antisemitismus aus der Welt 
geschafft sei. Linz hatte vier Anträge eingebracht, da¬ 
von wurde die Bildung eines Komitees zur1 sofortigen 
Vorsprache beim Präsidenten Seitz, sowie die Fühlung¬ 
nahme mit den führenden jüdischen Männern im Deut¬ 
schen Reiche angenommen. In der in Wien abgeführten 
Debatte fielen als Ausdruck der Provinzvertreter gegen 
die Gleichgültigkeit der Wiener Kreise Worte, wie 
„Modergeruch, nicht zu paktieren, Leisetreten" usw. 
Ein Beweis für das hohe Niveau, auf dem die Debatte 
erfolgte, war der Antrag einer Kultusgemeinde,, über 
die jüdischen Kommunisten den Bann auszusprechen, 
oder z. B. die Äußerung der Wiener Kultusgemeinde, 
daß das Judentum, durch eine tausendjährige Geschichte 
verbürgt, zum Leiden bestimmt sei. Die Delegierten 
aus Linz sind der Ansicht, daß Unruhen in Wien gegen 
die Juden auch auf die Provinz übergreifen würden 
und warnen die Wiener Kultusgemeinde, weiterhin 
gleichgültig den Dingen gegenüberzustehen; sie trage 
für alles die Verantwortung. Ferner beanständete die 
Delegation, daß der einzige jüdische Abgeordnete, sowie 
die drei jüdischen Gemeinderäte der, Tagung nicht bei¬ 
gezogen wTurden. Die am nächsten Tage bei Staatssekre¬ 
tär Eldersch — Präsident Seitz war angeblich dringend 
verreist — erschienene Abordnung forderte die Regie¬ 
rung auf, alles zu veranlassen, was an Maßnahmen nötig 
sei, um zu befürchtende Unruhen zu verhindern. El¬ 
dersch stimmte in manchem zu, konnte jedoch einen Vor¬ 
wurf den Juden nicht ersparen und gemahnte, auch 
ihren Teil beizutragen. 
Albrecht betonte die verschiedenen Verhältnisse in 
Wien und der Provinz und wies darauf hin, daß eine 
gemeinsame Plattform geschaffen werden müsse, um bei 
der Regierung und Bevölkerung Einfluß nehmen zu 
können. In dieser Beziehung habe er --sich von den 
Wahlen in den Jüdischen National-Rat eine günstige 
Lösung versprochen. 
Kafka führt aus: Wir stehen am Vorabende großer 
Ereignisse und wollen nicht alles rat- und tatlos über 
uns ergehen lassen. Es sollen die führenden Männer in 
Deutschösterreich um ihre Meinung befragt werden und 
eine Form gefunden werden, wo sich nationale und 
nichtnationale Juden treffen können. 
Spira bedauert, daß seine seinerzeitige Anregung 
eii^e weitverzweigte Organisation zur Abwehr der anti¬ 
semitischen Bewegung zu schaffen, nicht angenommen 
wrurde. 
Taussig beantragt den Dank an die Delegation und 
meint, daß es eine Selbstüberhebung wäre, wenn Linz 
glaube, bahnbrechend wirken zu können. Seiner An¬ 
sicht nach solle eine ähnliche Institution wie i$ Deutsch¬ 
land, die „Vereinigung deutscher Israeliten" geschaffen 
werden, die nicht national ist und wo jeder getrost die 
Hand reichen köntie. Freund beantragt, die deutsch- 
österreichischen Kultusgemeinden von dieser Wechsel¬ 
rede zu informieren und zu einer Delegiertensitzung nach 
Linz einzuladen. Orlik beantragt Vertagung. Schließlich 
werden in das vorbereitende Komitee gewählt : Albrecht, 
Freund, Kafka, Dr. Schneeweiß, Schwager, Taussig. 
4. Eventuelles: Albrecht beantragt eine Erhöhung 
der Anteilscheine der Tempelentschuldungsaktion von 
50 K auf 100 K (angenommen). Pollak gibt die ein¬ 
gelaufenen Thora-Ablösespenden mit 5459 K bekannt. 
5. Vertrauliche Sitzung. St. 
Mitteilungen 
des Jüdischen Nationalfonds und des 
Palästina-Amtes. 
Die Bautätigkeit in Palästina. 
Über eine der wichtigsten Ansiedlungsf ragen in 
Palästina unterrichtet der Prospekt der Palästina-Bau- 
gesellschaft (siehe auch Nr. 27 der J. N.). Wir ent¬ 
nehmen ihm die nachstehenden Ausführungen: 
Eine Einwanderung von Juden aller Klassen und 
Berufe, deren iTmfang für die ersten Jahre von den 
zionistischen Führern auf 60 bis 70 tausend Seelen jähr¬ 
lich geschätzt wird, wird unmittelbar nach (der Wieder¬ 
kehr geordneter Zustände, d. h. nach) Friedensschluß 
einsetzen. 
Da das Land, das vor dem Kriege von 600.000 
Arabern und 100.000 Juden bevölkert war, keine über¬ 
schüssigen Wohngelegenheiten für die zu erwartende 
Einwanderung und auch sonst keinerlei bauliche Vor¬ 
kehrungen für die technische und industrielle Entwick¬ 
lung, die gleichzeitig komlmen wird, besitzt, so wird eine
	        
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