Volltext: Nr. 26 (26. 1919)

Jüdische Nachrichten 
Nr. 26 
Tolstoj über den Antisemitismus. 
Aus dem Buche „Gespräche mit lolstoi \on 
J. Teneromo.* 
Mir fällt es sehr schwer," sagte einst Tolstoi, auf¬ 
gebracht über die antisemitischen Treibereien in den 
oberen Gesellschaftsschichten Bußlands, „den beelen¬ 
zustand der Menschen, die von diesem Wahnsinn be¬ 
sessen sind, vorzustellen. Ich erinnere mich nie, jemals 
solche Gefühle gehabt zu haben, und konnte sie auch 
nicht beim Volke bemerken; wenn ich mich aber darin 
tiefer hineindenke, sehe ich immer deutlicher, daß der 
Antisemitismus keine Anschauung, kerne politische 
Überzeugung, keine Parteiansicht ist, sondern em krank- 
haften Zustand, eine wilde Leidenschaft; eine Leiden¬ 
schaft, die schon an das Gebiet der niederen erotischen 
Leidenschaften mit einer besonders ekligen Nuance 
grenzt. Es gibt Menschen, — und im besonderen fallt 
diese Art bei versoffenen und jeder Scham baren 
Straßendirnen anf. Bei Straßendirnen, die ohne Unter- 
laß und bis ihnen der Geifer im Munde erscheint, mit 
häßlichen Worten und schmutzigen Schimpfreden her¬ 
umwerfen und dann im höchsten Gipfelpunkt des Wahn¬ 
sinns sich so weit, vergessen, daß sie den Leuten ihren 
ganzen Schmutz aufdecken. Und in der J at, es ist 
schwer, sich etwas Ekligeres auszudenken. — Denselben 
Schmutz decken auch die vom Antisemitismus Besesse- 
nen auf. *. 
Auch sie beschimpfen ohne Unterlaß mit schmatzen¬ 
der Lust die Juden. Kommen sie einmal auf dieses 
Thema, so lassen sie es nicht los, und man sieht es ihnen 
deutlich an, welches Wohlbehagen ihnen dies Verspritzen 
von Schmutz bedeutet . . . Schriftlich und mündlich. 
Nehmen sie z. B. irgendeinen besseren von den anti¬ 
semitischen Schriftstellern, der in den anderen Prägen 
nüchtern ist und fähig, Gedanken zu verbinden, ohne sich 
' zu wiederholen: Sowie er auf die Juden zu sprechen 
kommt, bringt er in jeder Zeile das Wort „Jude" vor. 
Manchmal auch zweimal in einer Zeile. Wie die gei¬ 
fernde Straßendirne in ihren unzüchtigen Beden. Man 
kann schwerlich einen anderen Vergleich für unsere 
(entschuldigen Sie, es fällt mir sogar schwer, das Wort 
auszusprechen) judenfresserische Literatur finden. 
Der Antisemitismus ist eine Sünde. Die Antisemiten 
erkennen einander am verschmitzten Lächeln, am Kopf¬ 
nieken, besonders wenn zusammen mit ihnen oder an 
ihnen vorbei ein Jude den Weg passiert. — Kaum, daß 
sie einander erkennen, so fangen sie an, den Schmutz 
ihrer Seele voreinander auszubreiten und sich alle mög¬ 
lichen schmutzigen und ekligen Worte über die Juden 
zuzurufen. „Jud", „jüdisch" usw., nichts ist sonst zu 
hören. Was sie dabei über Politik, über Nationalökono¬ 
mie, über Geschichte und sogar über Religion, von der 
Weltherrschaft, Judengemeinden usw. vorbringen, hat 
gar keine Bedeutung. Es ist bloß, um ihnen die Haupt¬ 
sache mit allerlei Krimskrams zu verzuckern, wie man 
es mit Früchten tut, die bald verderben. Die Hauptsache 
ist die Frucht, an der sie saugen und worin sie großes 
Vergnügen und besondere LaJ)sal finden. Ich mußte oft 
auf Dampfschiffen und in Eisenbahnwagen stundenlang 
diese Reden anhören und war geradezu entsetzt über die 
langweilige Eintönigkeit des Themas und über das Ki¬ 
chern und Lachen, womit solche Reden begleitet wer¬ 
den. Dies erinnert ganz besonders an das Lachen einer 
*) Dieses Buch entstammt Aufzeichnungen über Gespräche, 
die J. Teneromo, der intime Freund Tolstojs, in Jasnaja Poljana 
in den Jahren 1885 - 1908 mit dem Dichter geführt hat. Es ist^bei 
Erich Reiß, Berlin, 1911, erschienen. 
losen Gesellschaft, wo Männer und Frauen einander 
schmutzige-Zoten .erzählen und. mit Lustbehagen in die¬ 
sem klebrigen Lehm der Fäulnis herumwühlen. Und 
ebenso wie in dieser Gesellschaft, bekommt man auch 
hier dumme Anekdoten, begleitet von gemeinen Grimas¬ 
sen, zu hören . . . Ich will nicht mit dem Gleichnis 
spielen und will auch nicht eine Analogie m allen Einzel¬ 
heiten vorführen, bloß den unzweifelhaften Gedanken 
feststellen, daß der Antesimitismus ein krankhaftes, 
schädliches Gewächs ist, und daß es unter den \ olkern 
und Epochen vorkommt, wenn die schmutzige Welle dei 
Sittenverderbnis den Verstand und das Herz dei R en¬ 
schen übergießt. So war es in Ägypten und Bom mit 
geschlechtlichen Ausschweifungen. So bei Monchtum 
und Päpsten mit den sodomischen Sünden, so 111 Frank¬ 
reich mit seinem Sadismus und anderem ekligen 
Schmutz. Ebenso bei uns in dem faulen Grund, in diesen 
verfaulten und schmutzigen oberen Schichten, wo diese 
Verderbnis der Leidenschaften dieselben ekligen und 
furchtbaren Formen annimmt, wie bei den alten V olkein. 
Und nur damit ist es zu erklären, daß der Antisemi¬ 
tismus namentlich in diesen Kreisen vorkommt und von 
hier aus diese faulende Mistjauche rinnt und das ganze 
Tal des Volkslebens vergiftet, wie die faulen Abfalle 
der Fabriken ihre Umgebung vergiften. Dem Volk sind 
die antisemitischen Gefühle fremd, wie ihm die ver¬ 
schiedenen Ausschweifungen fremd sind. Und unter a 
diesem Schmutz ist der Antisemitismus der ekligste und 
giftigste. Er enthält alles: Die Galle des Hasses, den 
Speichel der Tobsucht, das Lächeln des Verräters, dei 
Trunkenheit, der Vergewaltigung, der Brandstiftung 
und alles, was nur die dunklen Tiefen einer menschlichen 
Leidenschaft bergen könnte, , ß .. 
Man sage mir nicht, die Juden seien so, daß ihr 
Leben, ihr Glaube, ihre Handlungen das Gefühl des Anti¬ 
semitismus hervorbringen — nein, der reine Antisemi¬ 
tismus untersucht nicht die ^ Schuld und kümmert sich 
auch nicht um sie. Er igt einfach ein Laster, eine Lös¬ 
willigkeit, Sehr aufrichtig hat schon König Adrian sieh 
darüber geäußert, „Wer bist du", fragte der König, „ein 
Jude?" „Jawohl, ein Jude." 
Und du wagst es, 
mich zu grüßen, wie wenn ich ein Bekannter von dir 
wäre . . . Man enthaupte ihn!" Ein anderes Mal ging 
ein zweiter Jude, der von diesem Vorfall Kenntnis hatte, 
an Adrian vorbei und traute sich nicht ihn zu grüßen. 
„Wer bist du?" hielt ihn Adrian auf. „Ein Jude." „Ein 
Jude?" Und du untersteht dich, an mir vorüberzugehen 
und mich nicht zu grüßen? . . . Man enthaupte ihn!" 
Man befolgte seinen Befehl. Als die Nächsten des Königs 
ihre Verwunderung in Andeutungen ausdrückten, er¬ 
klärte ihnen Adrian: „Ich verachte sie und benütze jeden 
Zufall, um sie zu vernichten." Und so sind alle Anti¬ 
semiten. Was ist das? In welch einen bodenlosen Ab¬ 
grund ziehen uns diese verrückten, von einem trüben 
Laster besessenen Leute und welche Zersetzung berei¬ 
ten sie dem Lande, wenn dieser Wahnsinn sich ausbreitet 
und weitere Kreise ergreift! Nicht Naturereignisse und 
auch nicht feindliche Heere vernichten Völker und Län¬ 
der, sondern der Zerfall der inneren Kräfte und die Trü¬ 
bung der seelischen Beinheit, die Verbreitung von La¬ 
stern, Bosheit und Ausschweifung, vereint mit dem 
Wunsche, andere Nationen zu unterdrücken — dies ver¬ 
nichtet Nationen, Länder und Staaten. „Menschen!" 
möchte man ihnen zurufen, „was tut ihr? Warum ver¬ 
mehr ihr eure Gesetzlosigkeit und warum macht ihr euch 
mit eurer unerhörten Grausamkeit den anderen gegen¬ 
über teilhaftig an dem Zorn des Schicksals und wendet 
diesen Zorn auf euer eigenes Leben ?" Dieser Staat, der
	        
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