Volltext: Nr. 16 (16. 1919)

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Jüdische Nachrichten 
Nr. 16 
Peter eine Schar sammelte (Albertus I, 23). Auffallen¬ 
derweise sagt Graetz (VI, S. 358, Note 5), daß Gottschalk 
mit seinen Scharen an dem Gemetzel der Juden unschul¬ 
dig sei. Graetz stützt sich auf seine Hauptquelle Albertus 
Aquensis, der Gottschalk im Zusammen hange mit; den 
Judenmetzeleien nicht-erwähnt. Nun erzählen aber selbst 
die christlichen Chroniken über Gottschalk, daß er an 
Ruchlosigkeit und Lasterhaftigkeit die anderen Anführer 
übertraf. Das Volk nannte ihn den falschen Schalk Gottes 
und es freute sich seiner spätem Niederlage (vgl. Ekke¬ 
hard, Hierosol. XII und Hagenmayer, S. 124, Wilhel. 
Tyr., Historia I, 27). Es wäre also gerade ein Wunder, 
wenn dieser Wüterich an den Juden ruhig vorbeigezogen 
wäre. 
Nach Speyer kam die Reihe an Worms. Die Juden, 
abgeschreckt durch die Vorfälle in Speyer, ersuchten den 
Bischof und die Bürger um Hilfe und übergaben densel¬ 
ben gleichzeitig das Vermögen zur Aufbewahrung. Dies 
sollte den Juden zum Verhängnis werden, denn das Geld 
reizte die , Bürger dazu, die Juden zu verraten, um das 
Geld für sich zu behalten. Nach Bericht III, S. 49 (lf2) 
verbreiteten die Bürger das Märchen, die Juden wollen 
die christlichen Einwohner durch Leichengift umbringen. 
Mag die Beschuldigung, wie sie jetzt im hebr. Bericht 
vorliegt, späteren Ursprunges sein, eines ist aber ersicht¬ 
lich: die Bürger suchten einen Vorwand, um sich ihres 
Versprechens gegenüber den Juden zu'entledigen und im 
Besitze des Geldes zn bleiben. Am 18. und 27. Mai 
(23. Jjar und Neumond Siwan) wnrde die jüdische Ge¬ 
meinde in Worms vernichtet. Um der laufe zu entgehen, 
gaben sich viele selbst den Tod. Als Akt besonderer Grau¬ 
samkeit wird hervorgehoben, daß die Kreuzfahrer die 
ermordeten Juden der Kleider beraubten und sie dann 
nackt liegen ließen. Diese ungebührliche Behandlung cer 
Toten beklagt der Dichter Menachem ben Machir und Ka- 
lonymos. Es ist nicht uninteressant zu erfahren, daß 
einige Juden sich zum Scheine taufen ließen, um so die 
Möglichkeit zu haben, die Leichen vor weiterer Schändung 
zu schützen, während sie sonst bereit waren, sieh eher zu 
entleiben, als sich durch die Taufe zu retten. Die Zahl 
der jüdischen Märtyrer belief sich hier auf 800. 
Der Anführer der Kreuzfahrer wird sicher Wilhelm 
der Zimmermann, Vicomte von Melun, gewesen sein. jj^ei 
die Zügellosigkeit seiner Truppen spricht Wilh. l'yr., 
Hystoria T, 30. In Mainz vereinigten sich seme 1 ruppen 
mit der des Emicho (Albert Aqu. I, 28) und letzterer 
führte seitdem den Oberbefehl. So ist es gekommen, daß 
der Name Wilhelms des Zimmermanns m den hebräischen 
Quellen nicht erwähnt wird, obwohl er den Juden nicht 
weniger Leid zufügte als Emicho. 
Während Wilhelm in Worms seines ruhmvollen 
Amtes waltete, saß auch in Mainz sein Genosse Emicho 
nicht ruhig. Die Juden stützten sich auf die Verspre¬ 
chungen des Bischofs und der Bürger. Tatsächlich waren 
die Bürger den Juden nicht feindlich gesinnt und ließen 
sich anfangs selbst in einen offenen Kampf mit den Kreuz¬ 
fahrern ein. Eine starke Agitation seitens der ländlichen 
Bevölkerung und der persönliche Einfluß des Judenfres¬ 
sers Emicho, der in der Gegend von Mainz begütert war, 
bewog die Bürger, die Juden im Stiche zu lassen. Den 
Emicho schildern die christlichen Quellen als einen hab¬ 
gierigen, rücksichtslosen und gewalttätigen Grafen (vgl. 
Ekkehard, Hierosol. XII und Hagenmayer, S. 216, Anna¬ 
list» Saxo, Pertz VI, S. 729). . 
Während des ersten Kreuzzuges hatte Emicho den 
Juden das größte Leid zugefügt. Er schonte weder Greis 
noch Jungfrau, hatte weder bei Kind noch Kranke Er- 
barmen. Er war es, der das Volk Gottes wie Staub zer¬ 
trat, die Jünglinge mit dem Schwerte erschlug und die 
schwangeren Frauen aufschlitzte (Bericht I, S. 5). Um 
das Volk für sich zu gewinnen, gab Emicho vor, Jesus 
habe ihn durch eine Offenbarung aufgefordert, am Kreuz¬ 
zuge teilzunehmen, er habe ihm sogar ein Zeichen an 
seinem Fleische gemacht, Von dieser im hebräischen Be¬ 
richte mitgeteilten vermeintlichen Berufung spricht auch 
Ekkehard a. a. 0. Emicho gab vor, daß ähnlich wie der 
Apostel Saul (Actor. 9) durch eine außerordentliche Er- 
scheinung zum1 Apostel berufen wurde, auch ei zui Teil- 
nähme am Kreuzzuge aufgefordert worden sei. Nachrich¬ 
ten über ähnliche Aufforderungen durch Visionen und 
Träume bringen die Chronisten in großer Zahl. Ebenso 
Erzählungen über wunderbar auf den Körper einge¬ 
drückte Kreuzzeichen. Roger de Wendover ed. Göxe II, 
344, berichtet, daß die Mutter Gottes einmal einem from¬ 
men Pilger Gottschalk ein Kreuz in die Stirn eingebrannt 
habe. Ein solches Zeichen habe ein Genosse Gottfrieds 
vom Erzengel Gabriel bekommen (Chronik Cafari IL. 
Andere wieder gaben vor, ein solches Zeichen am Körper 
zu haben, damit sie reichlich Unterstützung fänden. 
Einem solchen Gaukler ist die jüdische Gemeinde in 
Mainz zum Opfer gefallen. — 
Emicho erschien vor Mainz am 25. Mai. Der Erz- 
bischof Ruthard hatte die Absicht, die Stadt zu verlassen. 
Durch ein Geschenk von 300 Silberstücke ließ er sich 
jedoch überreden zu bleiben. Dienstag den 27,-sMai (3. Si¬ 
wan) rückte Emicho an die Tore der Stadt, heran. l' m 
Teil der Bürger hielt es noch mit den Juden. Durch \ er¬ 
rat wurde nun das Stadttor geöffnet, und sogleich verbrei¬ 
tete man die Nachricht, die Tore haben sich von selbst 
geöffnet, daraufhin gingen die noch Schwankenden zu 
den Kreuzführern über. Das Gesindel zog nun zum Bi¬ 
schofspalast, wo diß Juden versammelt waren, bereit sich 
zu verteidigen. Unter der Führung des Vorstehers Kalo- 
mymos griffen alle zu den Waffen. — (Wir finden die 
Juden im Mittelalter oft irf der Führung von Waffen 
geübt und tüchtig.) — Am Burgtor, scheint der Kampf 
heftig gewesen zu sein. Die Juden gaben erst den Kampf 
auf, als sie von der Burgwache selbst verraten wuroen, 
und flüchteten in die Gemächer der Burg. Ein kleiner 
Teil blieb im Hofe zurück und erwartete den Todesstreich. 
Es waren dies die Rabbiner von Mainz, die Vertreter der 
berühmten Mainzer Schule, die den Untergang ihrer Ge¬ 
meinde nicht überleben wollten. — (Dieses traurige Bild 
erinnert uns an den Einzug der Gallier in Rom untei 
Brennus und auf dem Marktplatze alle Senatoren in feier¬ 
licher Amtskleidung saßen, entschlossen den Untergang 
der Vaterstadt nicht zu überleben.) — Auch in den ein¬ 
zelnen Gemächern leisteten die Juden Widerstand und 
der Kampf dauerte bis abends. Ein großer TeiMegte 
selbst Hand an sich, um nicht in die Hände der KreuZ- 
• fahrer zu fallen. Hervorzuheben ist die besonders tra¬ 
gische Szene einer Frau namens Rachel, die mit eigener 
Hand ihre vier Kinder tötete. Die Zahl der Märtyrer be¬ 
trug etwa 1300. Die Gemeinde in Mainz, der Sitz der 
jüdischen Gelehrsamkeit, ist bis auf einige Gerettete ver- 
nichtet. 
Daß der geldgierige Erzbischof Ruthard am meisten 
an diesem Unglücke schuldig war, ist schon daraus ei 
sichtlich, daß der ehrwürdige Vorsteher Kalomymos ihn 
erdolchen wollte. Wegen der jüdischen Gelder, die der 
Erzbischof und die Städter sich angeeignet hatten, mußten 
sie sich im Jahre 1098 vor dem Kaiser Heinrich IV. ver¬ 
teidigen (Ekkehard, „Chronicon", bei Pertz VI, S. 209). 
(Schluß folgt.)
	        
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