Volltext: Nr. 14 (14. 1919)

Nr. 14 
Jüdische Nachrichten 
Mit diesem Wahlrechte, das wohl keinesfalls als de- 
liiokratisch bezeichnet werden konnte, war auch ein Groß- 
teil der lnnsbrucker Genieindeniiiglieder nicht zufrieden 
und verlangte in einer Eingabe an den Kultusrat, das von 
der Steuerzahlung unabhängige, allgemeine, gleiche Pro¬ 
portionalwahlrecht für beide Geschlechter. Dem Wünsche 
wurde natürlich nicht Rechnung getragen, nur eine Kon¬ 
zession wurde gemacht: den durch die Kriegsdienst- 
ieistung an eine Steuerzahlung verhinderten Gemeinde¬ 
mitgliedern wurde für diesesinal das Wahlrecht für ihre 
eigene Person auch ohne Steuerleistung zugestanden. 
Den Gemeindemitgliedern stand kein weiteres Mittel zur 
Verfügung, auf ein weitergehendes Wahlrecht zu beste¬ 
hen, denn die unglaublich reaktionären Satzungen räu¬ 
men den Gemeindemitgliedern keinerlei Recht ein, auf 
die Änderung derselben, also auch des Wahlrechtes, irgend 
welchen direkten Einfluß zu nehmen. So mußte man sich 
für diesmal damit begnügen, daß in das vorbereitende 
Wahlkomitee, dem die Aufstellung der Liste der Wahl¬ 
werber übertragen wurde, auch Angehörige jener Gruppe 
zugezogen wurden, welche eine weitergehende Demokra¬ 
tisierung forderten. 
Das Ergebnis dieser Vorbesprechungen war eine 
Kompromißliste, welche der Kultuswählerversammlung 
am 4. d. M. zur Annahme vorgeschlagen wurde. 
In dieser Versammlung erstattete zunächst der Kul¬ 
tusvorsteher Herrn Wilhelm I) a n n haus er den Re¬ 
chenschaftsbericht des abtretenden Kultusrates. Er wies 
auf die Schwierigkeiten hin, welche der erste Kultusrat 
der Gemeinde, welcher am 15. März 1914 gewählt wurde, 
zu überwinden hatte. Auf die Finanzwirtschaft der Ge¬ 
meinde übergehend, mußte er feststellen, daß in den Jah¬ 
ren 1914—1917 die Ausgaben der Gemeinde durch die 
Einnahmen gerade gedeckt wurden, während durch die 
notwendig gewordene Steuerregulierung das Jahr 19.18 
bereits mit einem Saldo abschließen konnte. 
Die Opferwilligkeit der Gemeindemitglieder zeigte 
sich nicht nur bei den Spenden für wohltätige Zwecke, 
sondern ganz besonders bei jenen für einen Tempelneu¬ 
bau, welch letztere eine Höhe erlangten, die in Friedens¬ 
zeiten wohl den Neubau bereits ermöglicht hätten, unter 
den derzeitigen Verhältnissen jedoch bei weitem nicht 
ausreichen. Trotzdem fand er es für notwendig, bereits 
in nächster Zeit an den Neubau zu schreiten. 
Er hob die Tätigkeit der Gemeinde für die Befrie¬ 
digung der religiösen Bedürfnisse der jüdischen Soldaten, 
deren wiederholte Ausspeisung anläßlich der Festtage, 
die Fürsorge für Kranke und invalide Soldaten, sowie für 
jüdische Kriegsgefangene hervor und gedachte hiebei be¬ 
sonders der aufopfernden Tätigkeit des Rabbiners Herrn 
Dr. Link und der materiellen Unterstützung seitens des 
hiesigen jüdischen Frauenvereines. 
Herr Wilhelm Adler dankte dem scheidenden Kultus¬ 
rate, insbesondere dem Kultusvorsteher für seine hinge¬ 
bungsvolle Tätigkeit, begrüßte es, daß es dem Kultusrate 
gelungen sei, den Rabbiner Herrn Dr. Link an die Ge¬ 
meinde zu fesseln und hob seinerseits dessen aufopfernde 
Tätigkeit in den KriegsjahrenJbervo/. Sein Antrag, dem 
scheidenden Kultusrat den Dank und das Vertrauen der 
Versammlung auszusprechen, wurde einstimmig ange¬ 
nommen. 
An den Bericht schloß sich eine kurze Debatte, in 
welcher unter anderem Herr Staatsbahnrevident Hugo 
Ornstein der Tätigkeit des bisherigen Kultusrates die 
Aufgaben des zukünftigen gegenüberstellte. 
Hierauf wurde der Versammlung nachstehende, vTom 
Wahlkomitee vorgeschlagene Liste zur Annahme 
empfohlen. 
Adler W ilhelm, Bauer Luis, Baum Salomon, Ing. 
Berger Kichard, Dannhauser Wilhelm, Graubart Simon, 
Hacker Samuel, Maier Ignaz, Pasch Julius, Schulhof Jo¬ 
sef, Schwarz Richard, Stiaßny Sigmund. 
Die Annahme der Liste erfolgte einstimmig ohne 
1 >ebatte.' 
Das Programm für die Tätigkeit des kommenden 
Kultusrates entwarf Herrn Ing. Richard Berger nach 
einleitenden Worten, in welchen er betonte, in welcher 
W eise das vor der Entscheidung stehende Judentum sich 
entscheiden müsse, wie folgt: Die erste Arbeit sei in der 
Kultusstube der Demokratie zum Durchbruche zu ver¬ 
helfen. Die Satzungen der Kultusgemeinde seien derart 
autokratisch, daß der gewählte Kultusrat innerhalb seiner 
Funktionsdauer alles tun könne, was er wolle, ohne daß 
die Gemeindemitglieder einen direkten Einfluß darauf 
nehmen könnten. Der Demokratisierung der Satzungen 
werde Redner sein besonderes Augenmerk schenken und 
verlangen, daß dieselben nur im Einvernehmen mit den 
Gemeindemitgliedern abgeändert werden. 
Seine Stellungnahme zu den besonderen Aufgaben 
des Kultusrates präzisierend, sagt er: Erste und höchste 
Aufgabe des Kultusrates ist es, für die Erhaltung des 
Judentums zu wirken, alles zu tun, was geeignet erscheint 
jüdischen Geist, jüdisches Wesen, jüdische Moral und 
Ethik zu bewahren und zu vertiefen. Die hiefür geeig¬ 
neten Mittel erscheinen ihm zweifacher Art: Einerseits 
in der Erhaltung und Erweiterung des Vorhandenen, an¬ 
derseits in dem Aufbau des neu zu Schaffenden, erstrek- 
ken sich also einerseits auf die Erwachsenen und ander¬ 
seits auf die Jugend. Erstere warnte er, in dem neu zu 
erbauenden Tempel einen Gottesdienst einzuführen, dem 
der jüdische Geist genommen werde, ein Reformjudentum 
zu schaffen, dessen direkter Weg zur Taufe führt. Er 
verlangt die Errichtung einer jüdischen Gemeindebiblio¬ 
thek, da die erschreckende Unwissenheit auf dem Gebiete 
der jüdischen Literatur viel zur Entfremdung von allem 
Jüdischen führt. Weiter verlangt er die Einführung 
volkstümlicher, jüdischer Qeschichtskurse, um die Ge¬ 
meindemitglieder mit unserer Geschichte vertraut zu 
machen. Aufgabe des Kultusrates wird es ferner sein, den 
Gemeinschaftssinn zu heben, alle Klassengegensätze zu 
beseitigen, damit jedes Gemeindemitglied (bis Bewußt¬ 
sein habe, daß es als voll- und gleichwertiges Mitglied das 
Recht und die Pflicht habe, sich um alle Einrichtungen 
der Gemeinde zu kümmern. Jedes Gemeindemitglied muß 
auch das Bewußtsein haben, daß es in dem Kämpfenden 
es infolge seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft auszu¬ 
kämpfen hat, auch die ganze Gemeinschaft hinter sich hat. 
Nur dann wird es möglich sein, daß jeder einzelne diesen 
Kampf würdig führt, nur dann wird es möglich sein, daß 
jeder einzelne und mit ihm die Gemeinschaft sich die 
Achtung unserer Feinde erwirbt. 
Auf die Aufgaben der Jugenderziehung übergehend, 
führte er ausführlich die Sünden an, die die meisten jüdi¬ 
schen Eltern an ihren Kindern diesbezüglich begangen. 
Er verlangte, daß der neugewählte Kultusrat durch Be¬ 
rufung einer erstklassigen, jüdisch und pädagogisch ge¬ 
schulten Lehrerin den Eltern die Möglichkeit gebe, die 
Erziehung ihrer Kleinsten in jüdischem Sinne zu bewir¬ 
ken und ihnen das zu geben, was die Eltern zu geben 
nicht imstande sind, da sie es selbst nicht besitzen. Die 
so beeinflußten Kinder in einem Religionsunterricht, der 
nach den Ergebnissen der Studien von Fachleuten neu 
belebt werden muß, weiter in jüdischem Geiste erzogen, 
werden die jungen Menschen heranwachsen, die ihr Ju¬ 
dentum nicht mehr als Schmach empfinden und es bei der 
erstbesten Gelegenheit abzustreifen suchen.
	        
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