Volltext: Zeitschrift des Münchener Alterthums-Vereins XIV und XV Jahrgang (XIV. / XV, Jahrgang / 1903/04)

PLASTISCHE BILDWERKE DES XV. UND XVIII. JAHRHUNDERTS. 
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nächst erinnern die Krabben auf den Bögen an 
das leichte gekrauste Blattwerk der Schule von 
Dijon seit etwa 1400. Die Flambeauform mag um 
dieselbe Zeit aufgekommen sein. Allein ihre Aus¬ 
bildung, wie wir sie im letzten rechten Felde sehen, 
ist sehr spät; sie herrscht vor allem im Masswerk 
vlämischer Altäre gegen 1500. Mag nun auch in 
Frankreich diese Abart schon früher aufgetreten 
sein — genaue Daten darüber konnte ich nicht 
finden —, keinenfalls wird man mehr als zwan¬ 
zig Jahre dazwischen setzen dürfen. So wird man 
als Entstehungszeit unserer Truhe das letzte Viertel 
des 15. Jahrhunderts annehmen müssen. 
PLASTISCHE BILDWERKE DES XV. UND 
XVIII. JAHRHUNDERTS. 
Von Dr. J. B. Schmid. 
Plastik war stets ein Lieblingsthema für die 
Vorzeigungen an den Vereinsabenden, und jeder¬ 
zeit wurde eine Reihe von schönen Werken der 
verschiedensten Epochen von den Mitgliedern zur 
Erörterung mitgebracht. In den beifolgenden 
Tafeln sind einige der besten vorgeführten Plasti¬ 
ken reproduziert und jeder Altertumsfreund wird 
dieselben gerne dauernd, wenn auch nur in der 
Abbildung, vor Augen haben. 
Der Christuskopf1), welcher ein Fragment eines 
holzgeschnitzten Cruzifixes ist, macht durch seine 
erhabene Auffassung und einfache grosse Behand¬ 
lung auf jeden Beschauer tiefen Eindruck. Er ist 
italienische Arbeit und trägt alle charakteristischen 
Züge derselben. Die Formen sind breit und gross 
gesehen und meisterhaft zügig geschnitten. Wie 
ruhig und ohne nebensächliche Details ist nicht die 
Stirn mit den schmerzlich nach oben gezogenen 
Augenbrauenbogen, die das sterbende Auge über¬ 
schatten, gestaltet, wie einfach und schlicht die edle 
Nase, wie klar in der Form die eingefallene Wange 
des leidenden Christus modelliert! Der Mund ist 
halb geöffnet und wie bei einem Sterbenden schmerz¬ 
lich verzogen; die Zunge liegt an der Unterlippe 
an und man fühlt mit dem Lechzenden den Durst. 
Die Haare, die in schönen Linien herab wellen, sind 
nicht kleinlich und wirr, sondern in geschlossenen 
Massen behandelt. Man sieht sofort, wie beson¬ 
ders auch in dieser Richtung die Antike auf die 
italienische Kunst bildend eingewirkt hat. Die Be¬ 
handlung des Bartes verrät durch die Sicherheit 
und Feinheit der Schnittführung die Hand eines 
sehr tüchtigen Meisters. Wie schade, dass nicht 
*) Original in Lebensgrösse; Eigentum des Herrn 
Direktors Prof. August Holmberg. 
der ganze Christus erhalten ist, sodass man den 
Künstler auch in der Modellierung des Körpers und 
der Draperie näher kennen lernen könnte! 
Wenn wir den Kopf mit Werken deutscher 
Kunst vergleichen, so wird derselbe einerseits ge¬ 
winnen, andererseits verlieren. Unzweifelhaft hat 
er vor den deutschen Arbeiten die Einfachheit und 
Grösse der Behandlung voraus; er bringt nur das 
Notwendige, ohne sich in Details zu verlieren. 
Allein wenn wir deutsche gleichzeitige Werke, die 
auf derselben künstlerischen Stufe stehen, daneben 
halten, so werden wir sofort für diese mehr ein¬ 
genommen sein, da sie tiefer, inniger und wärmer 
empfunden sind. Und wenn auch der Künstler an 
den Details zu sehr hängen bleibt, so wird er doch 
durch 4ie Gefühlswärme, die sein Werk ausstrahlt, 
den Beschauer wohltuender und andauernder fes¬ 
seln als dies sein italienischer Kunstkollega trotz 
vielfach grösserer Virtuosität und besserer Schul¬ 
tradition vermag. Unter den vielen Kunstwerken, 
die man zum Vergleiche mit unserem Christuskopfe 
heranziehen könnte, verweisen wir bloss auf den 
leider noch viel zu wenig bekannten herrlichen 
Christuskopf in der Stadtbibliothek zu Schlettstadt.1) 
Wenn wir von dem Meister unseres Christus¬ 
kopfes den Namen leider nicht kennen, so sind wir 
bei dem Werke, das auf der ersten Tafel*) 2) abge¬ 
bildet Ist, um so besser daran. Wir erblicken ein 
2) Abgebildet in den „Elsässischen und Lothringischen 
Kunstdenkmälern“, herausgegeben von Dr. S. Hausmann, 
I. Bd. Taf. 3. 
2) Das Original, welches Eigentum des Herrn Juwelier 
Franz Greb ist, stammt aus Würzburg. Die verschiedenen 
nicht gerade wesentlichen Reparaturen wurden in meister¬ 
hafter Weise von Herrn Bildhauer Schuster vorgenommen. 
Höhe 1 m. 
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