Volltext: Zeitschrift des Münchener Alterthums-Vereins XIV und XV Jahrgang (XIV. / XV, Jahrgang / 1903/04)

EINE SPÄTGOTISCHE TRUHE. 
Besprochen von Dr. Siegfried Graf Piickler-Limpurg. 
Die nebenstehend abgebildete Vorderseite einer 
aus Lyon stammenden Truhe bildet ein interessan¬ 
tes Beispiel spätgotischer Verzierungsweise, und 
zwar in der spätesten, nur in Frankreich voll zur 
Ausbildung gekommenen Form, dem sog. Flam¬ 
boyantstil. Die ganze Fläche ist in fünf auf Säulen 
ruhende Kielbögen geteilt, deren mittelster schmä¬ 
ler und niedriger ist, um Raum, für das Schloss zu 
schaffen. Der untere Teil ist mit Blendbogen aus¬ 
gefüllt, der Rest mit Masswerk. 
Das System einer derartigen Masswerkfüllung 
hat sich im Laufe der gotischen Zeit sehr ge¬ 
ändert. Während in der ersten Ausbildung die ein¬ 
zelnen Formen möglichst rein und streng neben¬ 
einander gesetzt wurden, sodass sie sich nur be¬ 
rührten, nicht miteinander verschmolzen, macht sich 
schön seit der Mitte des 14. Jahrhunderts das Be¬ 
streben geltend, die Formen so miteinander zu ver¬ 
binden, dass sie den Raum lückenlos füllen. Die 
biegsame, geschmeidige Fischblase war hiezu be¬ 
sonders brauchbar; so beherrscht sie seit Anfang 
des 15. Jahrhunderts das Masswerk. In Frankreich 
blieb man nicht bei ihr stehen; man entwickelte 
aus ihr ein neues Element, die Flammen-(Flambeau-) 
Form. Diese besteht wesentlich aus zwei in ent¬ 
gegengesetztem Sinne gebogenen Fischblasen, die an 
der breiten Basis sich berühren und beide Spitzen 
in eine vereinigen. Zwischen beiden bleibt ein Raum, 
den man etwa als eine an den Schmalseiten in zwei 
Spitzen verzogene Ellipse beschreiben könnte. Das 
ganze hat ungefähr die Form einer Flamme; da¬ 
nach wurde diese Stilform auch benannt. 
Auch an unserer Truhe tritt uns die Flam¬ 
menform in verschiedener Durchbildung entgegen. 
Am reinsten ist sie — mit der Spitze nach unten 
gerichtet — zweimal im zweiten Felde links; nur 
sind hier vier Fischblasen zu ihrer Bildung ver¬ 
wendet. Im letzten linken Felde besteht sie gar 
aus acht Fischblasen, und ist selbst gleich diesen 
gebogen. Ihre letzte Entwickelung zeigt sich im 
rechten Endfeld; hier ist der ursprüngliche Auf¬ 
bau schon vergessen, nur noch der flammenartige 
Umriss ist übrig. 
Im dritten Felde ist die ellipsenartige Mittel¬ 
form allein als Grundmotiv des Masswerkes ge¬ 
wählt. Im Mittelfelde endlich findet sich eine Ro¬ 
sette, gefüllt mit Fischblasen, die sich in diago¬ 
naler Richtung aneinander reihen. 
Wann die Truhe entstanden sei, lässt sich leider 
aus dem allen noch nicht genau bestimmen. Zu- 
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