75
Oes Kriegers letzte Melodie
Das Volkslied vom „Guten fiamcradcn", das der Zufall schuf
Vor nunmehr 115 Jahren entstand das Lied vom „Guten
Kameraden", diese ergreifende Weise,.die überall da ertönt, wo ein
tapferer Soldat zur letzten Ruhe getragen wird.
An einem Junilag des Jahres 1825 hatte man in Tübingen,
der alten schwäbischen Universitätsstadt, einen hoffnungsvollen 30-
jahrigen Mann zu Grabe getragen. Schmerzerfüllt warf sich der
junge Musikdirektor Friedrich Silcher in seinen Armstuhl unb
überdachte den letzten bitteren Gang seines Freundes. Eine tiefe
Traurigkeit war in ihm und sinnend eilte feint Blick zum offenen
Fenster hinaus, durch das der Wind den Regen hereinpeitschte,
Plötzlich wehte ein weißes Etwas durch den Raum, ein Stück Pa¬
pier, das irgendwo in der Traufe gelegen haben mag, bis es der
Sturm emporwirbelte und dem Einsamen vor die Füße trug. Ge¬
dankenlos und mechanisch griff Silcher darnach, strich das zerknüllte
Papier glatt und betrachtete es.
Plötzlich sprang er auf. Was las er da für merkwürdige Worte,
die seinen Schmerz verstanden. „Ich hatt' einen Äameradm, einen
bessern findst du nit..sagten die Zeilen des Blattes, Es stammte
von einem der literarischen Almanache, die in jener Zeit von Hand zu
Hand gingen. Dann waren die Worte abgerissen und nur mehr ver¬
einzelte Stellen lesbar. Silcher wußte nicht, wie es geschah, das»
auf einmal seine Hände über das Spinett glitten, daß sie weh?
mutig und leise die Tasten strichen und eine erschütternde Melodie
erklingen ließen. Eine Stunde lang währte dieser ergreifende Nach¬
ruf in Noten, dann mahnte die Pflicht.
Tagelang lagen die Noten zu einem der schönsten Volks- und
Soldatenlieder, das Deutschland besitzt, unberührt in der Schub¬
lade. Es war in der Melodie jast schon fertig, obwohl sein Schö¬
pfer noch nicht einmal den vollständigen Text kannte. Zwischen den
Bleistiftskizzen auf den Notenblättern lag immer noch das zer¬
schlissene Blatt Papier, das damals der Wind ins Zimmer getragen
hatte. Silcher wußte zwar schon, daß das Gedicht von Ludwig
Uhland stammte, der auch in Tübingen wohnte, aber im Drang
der Arbeit hatte er noch keine Zeit gefunden, sich den vollständigen
Text zu besorgen. Da traf er eines Tages mit dem Dichter in der
Universitätsbibliothek zusammen und bat ihn, ihm den vollständigen
Tert zu schicken, da er das Gedicht vertonen wolle.
Ant nächsten Tag brachte Uhland selbst die Verse in die Woh¬
nung Silchers. Einen Abend lang saßen sich die beiden Männer ge¬
genüber. Der Musiker hatte kaum ein paar Takte seiner rührenden
Melodie gespielt, als ihm der Dichter in ehrlicher Ergriffenheit dje-
Hand gab und die prophetischen Worte sprach: „Wenn wir beide
längst nicht mehr sein werden, wird immer noch da, wo die deutsche
Zunge erklingt, dieses Lied gesungen und gespielt werden." So
hat das Lied vom guten Kameraden ein merkwürdiges Geschick