Volltext: Der Naturarzt 1899 (1899)

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Es giebt aber auch unendlich viele wirkliche Helden im Sterben, zwei sind mir 
im Augenblick besonders nahe vorm Geiste: Vinzenz Priessnitz und Kobert 
Hamerling. So wie sie gelebt hatten, so starben sie auch — gross! In 
gesunden Tagen spottet gar mancher Moliere über die Kunst der Aerzte und 
kann doch in der Krankheit nicht genug von ihrem Latein verschrieben 
bekommen. Als es mit Priessnitz zu Ende ging und ihn seine Frau in 
echt weiblicher Besorgnis wiederholt bittend fragte: ob sie ihm nicht einen 
Arzt holen lassen solle — da hatte er nur das eine Wort dafür: „Kind, lass 
das sein!“ Ebenso starb Hamerling nach vieljähriger schwerster Krankheit 
ohne ärztliche Mithilfe. Man soll mich nicht missverstehen. Ich vertrete nicht 
den Standpunkt jener Fanatiker, die die ärztliche Kunst völlig nichtachten und 
die doch auch nichts Bessers wissen und können — ich möchte nur jene 
Tragikomödie berührt haben, die sich im Leben und Sterben so manchen wind- 
getriebnen Kohrs abspielt, und die mir stets als eine menschenunwürdige 
erschienen ist. Am Bett eines solchen Kranken fliegen die Aerzte kopfüber in 
die Versenkung, wie die Minister in politisch bewegter Zeit. Ach ja, mancher 
Jünger Aeskulaps, wenn er Philosoph genug ist, muss eigentlich sehr klein von 
den Menschen denken lernen; denn es ist schwer: über dies Kapitel keine Satiren 
zu schreiben. 
Der Wille zum Leben und die Unwissenheit und Charakterlosigkeit auf 
hygienischem Gebiete sind es also, die das heilmittelgläubige Industrierittertum 
wie Steppengras emporwuchern Hessen. Wie manche der ersten Christen ehemals 
Götzen- und Heiligenbilder verehrten, um in jedem Falle erhört zu werden, so 
auch rufen die heutigen Kranken bald zum medizinischen, bald zum homöo 
pathischen, bald zum Wasserheilgotte um Erhörung — zuletzt versuchen sie es 
noch mit allerlei mysteriösen Heilgöttinnen, sodass man genau sieht: es fehlt 
uns modernen Menschen die Klarheit und die Einheit des naturwissenschaft 
lichen Denkens. Was würde man von einem Manne halten, der sich vorm 
Tode einen Pfarrer, einen Pastor, einen Kabbiner. einen Popen und einen 
Buddhapriester kommen liesse, um nur ganz bestimmt in irgend einen Himmel 
einzugehen? Genau in demselben Lichte erscheint mir stets der Wechsel der 
heilkundlichen Systeme am Krankenbett. Es kann nur eine wahre Heilweise 
geben, und das ist die, die unter strengster Individualisierung nur die Faktoren 
in Anwendung bringt, unter denen der menschliche Organismus erzeugt worden 
ist, und unter denen er lebt und webt — das aber ist nur die arzneilose Heil 
weise. Ein verständiger Mann handelt konsequent danach! 
Die Gründe für die Arzneilosiglceit sind für mich stets philosophischer, 
ethischer, physiologischer und wirtschaftlicher Natur gewesen. Mancher mag 
darin freier denken. Ich habe mir stets gesagt: Gott kann nur einen 
Willen haben. Diesen hat er unverrückbar im Naturgesetz festgelegt. Im 
Naturgesetz gipfelt die höchste Gerechtigkeit. Thue das, so wirst du leben! 
Gnade und Erbarmen, ein Augenzudrücken und ein X für ein U giebt es in 
der Natur nicht. Wie mans treibt, und wie es die Vorväter und Vormütter 
getrieben haben, so gehts uns selbst und unsern Nachkommen. Das ist die 
eiserne Natur-Moral, die sich jeder täglich zu Geiniite führen müsste; denn 
sonst wird man hinter ihm einst mit Kecht fluchend die Fäuste ballen. Nicht 
nur Häuser, Staatspapiere und Königreiche erben sich fort, sondern auch körper 
liches Elend und sittliche Verkommenheit. Jede Sünde gegen die Natur trägt 
die Strafe in sich, nichts in der Welt ist ungeschehen zu machen. 
Gott würde meines Erachtens seinen ersten Willen aufheben und das 
Laster begünstigen, wenn es Heilmittel im eigentlichen Sinne gäbe. Um die 
Lebensweise brauchte sich dann niemand mehr zu kümmern. Man lebte seinen 
guten Tag, und stockte die Maschine, nun, so hätte man sein Malefizöl — und 
weiter gings wieder wie nie zuvor! Das ist in der That die Lebensphilosophie 
so unendlich vieler, auch vieler Naturheilanhänger. Man soll kein Gesundheits 
fanatiker sein und es nicht so treiben wie jener Baron Knobelsdorff, der zu 
Priessnitzens Zeit auf dem Gräfenberge lebte. Er' ging nie hinter einem andern 
Menschen her, weil ihm der ja die reine Luft weggeatmet hätte; er atmete selbst
	        
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