Volltext: Der Naturarzt 1899 (1899)

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können die Anwendungen sein, desto mehr kann die Temperatur derselben 
von der des Körpers, welche ja bekanntlich etwa 37 Grad Celsius oder 
29,5 Grad R^aumur beträgt, nach oben und unten sich entfernen. Je 
schwächer der Patient ist, desto kleiner, kürzer und geringer an Zahl 
müssen die Anwendungen sein, desto mehr muss sich die Temperatur der 
selben der des Körpers nähern, Ja bei ganz Schwachen wird in zahlreichen 
Fällen ausschliesslich die Wärme angewandt werden müssen. 
Aus der wissenschaftlichen Diagnose „Lungentuberkulose“ ergiebt sich 
somit für die Behandlung mit den Faktoren der Naturheilkunde noch gar 
nichts; denn unter den Lungenkranken (Tuberkulösen) giebt es einige, die 
schon so schwach sind, dass sie zu Bett liegen müssen, andere wieder haben 
noch so viel Kraft, dass sie umhergehen können, die Kraft anderer ist noch 
als mittelstark zu bezeichnen, einige endlich befinden sich noch fast im 
Besitze ihrer vollen Kraft. Obwohl also alle an derselben Krankheit leiden, 
muss jedem entsprechend seiner Individualität jedoch ein anderes Mass von 
Anwendungen zugeführt werden. Ein solches Verfahren nennt man 
individualisieren. 
Lässt man nun auf den Körper ein individuell richtiges Mass von 
Anwendungen ein wirken, dann wirkt man fördernd auf die Lebenstliätigkeit 
des betreffenden Körpers, welche sich als Stoffwechsel und Heilbestreben 
(Naturheilbestreben) darstellt, man heilt dann also; Lässt man dagegen ein 
individuell zu starkes Mass (in Bezug auf Grösse, Zahl, Dauer und Tempe 
ratur) auf den Körper einwirken, dann hemmt man die Lebensthätigkeit, 
schadet also dem Körper. 
Daraus ergiebt sich also, dass das Wasser selbst keine Heilkraft 
besitzt, sondern dass die heilende Wirkung von dem individuell richtigen 
Verhältnis der Körperkraft zu dem Mass der Heilfaktoren abhängig ist. 
Der Unkenntnis dieser Thatsache ist es denn ja auch zuzuschreiben, dass 
Anfänger in der Wasserheilkunde oft so mangelhafte Erfolge, ja selbst 
Misserfolge zu verzeichnen hatten und dadurch in den Kreisen ihrer Be 
kannten die gute Sache oftmals in Misskredit brachten. 
Obiges wird durch folgende Ausführungen noch mehr Klarheit erhalten. 
Jeder kennt die lebensfördernde (heilende) Wirkung der Bewegung. 
Es dürfte wohl genügend bekannt sein, dass durch Spazierengehen, Fuss- 
touren, Bergsteigen, Terrainkuren, Gymnastik und dergl. Blutarmut, Lungen 
krankheiten, Herzleiden, Nervenleiden u. a. m. beseitigt also geheilt worden 
sind, ohne dass andere Heilfaktoren*) angewandt wurden. Trotzdem wird 
wohl niemandem einfallen zu behaupten, dass die Bewegung (als Heilfaktor) 
„Heilkraft“ besitzt. Es ist ja auch hinreichend bekannt, dass man durch 
Ueberanstrengung krank und schwach geworden ist. Die lebensfördernde 
das ist heilende Wirkung der Bewegung ist also — ebenso wie die des 
Wassers — in dem individuell richtigen Verhältnis zwischen dem Masse 
derselben und der Körperkraft zu suchen. Während das individuell richtige 
Mass der Bewegung beim Schwachen in einem kleinen Spaziergange liegt, 
liegt es beim Mittelstarken in einer längeren Fusstour, beim starken in einem 
längeren Marsche. Während sich also der Starke- durch einen Marsch ge- 
kräftigt fühlt, würde sich der Mittelstarke durch das Zurücklegen desselben 
Marsches überanstrengen, sich dadurch also schaden, der Schwache dagegen 
würde wohl schon auf der Hälfte des Weges erschöpft zusammenbrechen. 
Das Sprichwort sagt: Was dem Grobschmied frommt, ist des Schneiders 
Tod. (Der Grobschmied als Repräsentant des Starken (Robusten), der 
Schneider als der des Schwachen). Es ergiebt sich aus obigen Erörterungen 
also, dass die Diagnose (Feststellung) der Körperkraft, und das hierauf 
gegründete Individualisieren die erste Stellung in der Heilkunst einnimmt. 
*) Statt „Heilmittel“ sollte man stets die Bezeichnung „Heilfaktor“ oder nur 
Faktor gebrauchen, denn alte Namen, alte Irrtümer. Näheres enthält meine Broschüre: 
Das Lebensgrundgesetz (0,60 M.)
	        
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