Volltext: Der Naturarzt 1899 (1899)

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Goethe und das Naturheilverfahren. 
Zu des Dichters Jubeljahr. 
W. Fricke, Bielefeld. 
Wir dürfen das Jubeljahr unseres grössten Dichters nicht vor 
über gehen lassen, ohne die Frage aufzuwerfen: Welche Bedeutung 
hat Goethe für unsere Bewegung? Man hat unsern Meister in diesem 
Jahre nach allen Richtungen hin erhoben und sein erhabenes Wort 
bestätigt und wahr gemacht: 
Es wird die Spur von seinen Erdentagen 
Nicht in Aeonen untergehn! 
Einen Grundzug unseres Dichters und zwar den Quellpunkt 
seines ganzen Wesens aber hat man nicht berührt: Seine Liebe und 
seine Sehnsucht zur Natur. 
Wo fass’ ich dich, unendliche Natur? 
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens, 
An denen Himmel und Erde hängt, 
Dahin die welke Brust sich drängt, 
Ihr quellt, ihr tränkt — und schmacht’ ich so vergebens? 
Was hat man nicht alles aus Goetlie’s Faust herausgedeutelt 
und -getiftelt! Fasse man doch dies Meisterwerk als eine Natur 
predigt auf und'dann hat man den richtigen Schlüssel. Der Faust 
ist Goethe. Er ist der Schulweisheit über und überdrüssig ge 
worden, die medizinischen Studien ekeln ihn, sie sind ihm ein 
Hokuspokus und weiter nichts und mit Widerwillen hört er das Wort 
Mephistos: 
Es muss der Arzt ein Hokuspokus machen. 
Mit Ingrimm vernimmt er das Lob Wagners, das sich auf die 
Arzneierfindung der Familie Faust bezieht; die „junge Königin im 
Glas“ spuckt er an: rT . , r . 
r Hier war die Medizin, 
Die Patienten starben. 
Er rief das bekannte Donnerwort von den höllischen Latwergen; 
die Afterwissenschaft zu zerschlagen, das ist des Schweisses der 
Edlen wert, wenn auch der Chor singt: 
Weh! Weh! 
Du hast sie zerstört 
Die schöne Welt 
Mit mächtiger ,Faust 1 ! 
Sie stürzt, sie zerfällt! 
Ein Halbgott hat sie zerschlagen, 
Wir tragen 
Die Trümmer ins Nichts hinüber, 
Und klagen 
Ueber die verlorne Schöne. 
Ist der erste Teil des Faust ein Keulenschlag, gerichtet gegen 
die Medizin, so treffen wir im zweiten jene lieblichen Schilderungen, 
die der Natur abgelauscht sind. Jene Scenen, in der uns der Dichter 
in ein Leben führt, das naturgemäss und harmonisch, ein holdes Stück 
des Daseins, hinfliesst, in welchem die Früchte des Feldes, Milch und 
Honig des Menschen Nahrung bilden* und der Angstruf des ge 
schlachteten Tieres nicht an unser Ohr dringt: sie predigen mit ein 
dringlicher Stimme. 
Nicht die Natur, sondern der Mensch ist dem Dichter entgöttert: 
Die unbegreiflich hohen Werke 
Sind herrlich wie am ersten Tag.
	        
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