Volltext: Der Naturarzt 1899 (1899)

300 
bewussten Dienste bedarf sie, ihr Ziel zu erreichen. Wenn wir ihrem Ideale- 
nicht nachleben, ist unser die Schuld, wenn das Leben stockt. 
Wo aber stockt das Leben heute mehr als in den sozialen Verhält 
nissen? Wie wirkt deren Ungunst auf das Körperleben jedes Einzelnen 
zurück! Versinken nicht breite Volksschichten in Krankheit nnd Siechtum 
wegen der Gefahren der Arbeit, wegen unzureichender Nahrung, wegen, 
licht- und luftloser Wohnung! Welch Volksvermögen geht verloren durch 
den vorzeitigen Tod der eben erst mit langjährigem Aufwand heran 
gebildeten Arbeiter! Wie viele Arbeitskräfte liegen brach oder sind ganz, 
unzulänglich beschäftigt, weil sie ausser stände sind, mit den sinnreichen 
Werkzeugen und Maschinen die Kraft und Geschicklichkeit der Hand zu, 
verhundertfachen und zu vertausendfachen! Und nun gar die Masse kranken 
Elends im geistigen Leben : rohe Unbildung und schaffensunfähige Verbildung,. 
Verbrechen und Laster, tlerrschgier und endloser Streit überall! 
Und wir, wir ungetreuen Diener der nach Lebensfülle verlangenden 
Natur sind Schuld an dieser Ueberfülle von Krankheit und Tod! Jeder 
einzelne trägt mit an dieser Schuld. Hier und da mag wohl ein einzelner 
wähnen, er könne sich der Verantwortlichkeit entziehen; für sich wendet er 
fleissig Wasser, Licht und Luft an, naturwidrige Stoffe sind von seiner 
Nahrung ausgeschlossen und Reizmittel kennt er nicht, den Tieren thut 
er kein Leid, dem Armen giebt er reichlich, wenn dieser bei ihm vorspricht,, 
und nach Möglichkeit sucht er mit aller Welt auch in Erieden und Ein 
tracht zu leben. Ach, im Innersten seines Herzens fühlt auch dieser den 
Druck der Zeit auf sich lasten, dem sich eben keiner entziehen kann, wenn 
es ihm persönlich noch so gut geht. Denn volles Leben ist nur in der 
Gemeinsamkeit möglich; und wie kann da auch nur das Einzelleben gesund 
bleiben, wenn jeden Augenblick von aussen die Krankheitsstoffe auf ihn 
einstürmen! Wie solche „Ansteckung“ schon im Körperleben von der 
krankhaften Umgebung droht, wie viel mehr leidet das leicht empfängliche 
Gemüt unter den Einwirkungen geistiger Verkommenheit. Um solcher ent 
kräftenden Qual zu entgehen, genügt es nicht, für sich allein den Gesetzen, 
der Natur gehorsam zu sein. Der einzelne vermag nur einen verhältnis 
mässig kleinen Beitrag zur erfolgreichen Bekämpfung der Krankheits 
erscheinungen zu leisten; die Hauptaufgabe fällt der organisch ge 
gliederten Massen kraft der Gemeinschaft zu. Organisch ge 
gliedert muss diese Gemeinschaft sein; nicht um eine lose Aneinanderreihung 
der Werktätigen handelt es sich, sondern um eine gemeinsame Werk- 
thätigkeit, bei der jeder einzelne sich einordnet dem Ganzen und im Hin 
blick auf das Wohl des Ganzen in harmonischer, wechselseitig sich fördernder 
Mitarbeit Leistungen vollbringt, die die blosse Summe der Einzelkräfte in, 
vielfacher Potenz übersteigen. 
Solche Gemeinschaftsarbeit ist heute schon im Werden; wer wollte das 
verkennen! Besonders in den Kreisen der Anhänger jener oben angedeuteten 
Bestrebungen der Naturheilweise, des Vegetarismus, der Alkoholabstinenz, 
des Tierschutzes, der Friedensfreunde, ist in organischer Zusammenfassung 
schon manches gethan und noch mehr geplant. Leider tritt da ein gewisser 
sektiererischer Geist hemmend in den Weg. Solcher Geist der Sonderung 
und Abschliessung widerspricht jeder einzelnen der genannten Bewegungen 
aufs entschiedenste, da alle diese Bestrebungen im Wesen auf ein und 
dasselbe hinausgehen, nämlich den auf das Allwohl hinzielenden Gesetzen 
der Natur in treuer Hingabe zu dienen. Wenn dies gemeinsame Ziel fest 
ins Auge gefasst wird, dann ist ein gemeinsames Vorgehen unter diesen 
verschiedenen Reformbestrebungen nicht nur möglich, sondern notwendig. 
Die Besonderheit, mit der der Anhänger des Naturheilverfahrens dessen 
Heilmethoden, der Vegetarier die fleischlose Diät, der Tierfreund den Tier 
schutz u. s. w. in den Vordergrund stellt, berührt nur das einzelne Mittel, 
und nicht den Zweck; ein Zusammenarbeiten zu dem gemeinsamen wesen- 
haften Zweck schliesst daher die Selbständigkeit des Vorgehens der ein
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.