Volltext: Der Naturarzt 1899 (1899)

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-wohl erst kaum eines Beweises, dass durch eine derartige Arbeit die 
Kinder sowohl körperlich als auch geistig völlig zu Grunde gerichtet werden. 
Will man sich über die Frage der Kinderarbeit informieren, so muss 
man zunächst das Alter der beschäftigten Kinder in Betracht ziehen. Nach 
den statistischen Erhebungen Agahds besuchten unter 600 Beschäftigten noch 
135 Kinder die Unterstufe der Schule von Bixdorf bei Berlin = 22,5 %; 
in Hannover 243 Kinder der V. bis VII. Klasse; in Stolp 12,12 %;> in Alten 
burg an einer Mädchenschule bis 33 % der untersten Klassen; in Halle 
40 % unter 10 Jahren, bei der Hausindustrie sogar 56 %. Charlottenburg 
wies 470 auf, die im Alter von 5—10 Jahren angefangen hatten, Geld zu 
verdienen, darunter ein Junge von 4 Jahren. Vergegenwärtigt man 
sich, wie viel Elend hinter solchen Zahlen steckt, so dürfte man gewiss der 
Forderung voll und ganz beistimmen, dass kein Kind unter 12 Jahren gegen 
Lohn beschäftigt werden dürfe. 
Und wie lange müssen die armen Kleinen im Schweisse ihres An 
gesichts arbeiten! In einem Berliner Vorort waren im Winter vor dem 
Unterricht 43,7 % der Kinder 2 bis 3 Stunden, 20,4 % 3 bis 4 Stunden 
und 0,6 % über 4 Stunden beschäftigt. In Charlottenburg mussten vor 
4 Uhr früh 20 Knaben Frühstück tragen. Aus Halle berichtet man, das 
8 Kinder 45—50 Stunden wöchentlich, 5 Kinder 50—60 Stunden und 1 Kind 
sogar über 60 Stunden wöchentlich arbeiten musste. Körperlich völlig er 
schlafft kommen nun diese unglücklichen Kinder zur Schule und sollen hier 
3 bis 5 Stunden geistig thätig sein. Ist das wirklich möglich? Nein. Man 
darf sich fürwahr kaum darüber wundern, dass solche jugendlichen Arbeiter 
meist in der Schule mit geschlossenen Augen dasitzen, und die Besultate, 
welche sie zu Tage fördern, können nur ungenügend sein. Wurde doch in 
Hannover festgestellt, dass fast die Hälfte derartiger Knaben hinsichtlich 
der Leistungen unter normal war. Und wie steht es mit der Sittlichkeit 
solcher Schulkinder? Leider nicht zum besten. Als Kellner-, Kegeljungen 
u. s. w. lernen sie vielfach Vorgänge aus dem nächtlichen Treiben der 
Grossstadt kennen, die ihnen besser verhüllt blieben. Ja, wie mancher ist 
schon infolge seiner nächtlichen Beschäftigung zum Trinker und Verbrecher 
geworden! Geht doch aus einem Bericht über die Anstalt Plötzensee bei 
Berlin hervor, dass 70 % der jugendlichen Gefangenen früher als Kegel-, 
Frühstücksjungen u. s. w. schon seit dem 7. bis 9. Lebensjahre thätig 
waren. 
Lässt sich gegenüber solchen Uebelständen nichts thun? 0, doch! 
Die bestehende Gesetzgebung giebt dafür eine genügende Handhabe. Nach 
•§ 42 b, Absatz 5 der Gewerbeordnungs-Novelle dürfen „Kinder unter vier 
zehn Jahren nicht auf öffentlichen Wegen u. s. w. oder ohne vorgängige 
Bestellung von Haus zu Haus feilbieten u . Auf Grund dieses Paragraphen 
ist, wie es in der Begründung heisst, „die rechtliche Zulässigkeit von polizei 
lichen Verordnungen ausser Frage gestellt“. 
Und in der That sind schon in mehreren Städten Polizei-Verordnungen 
erlassen worden,- welche die Kinderarbeit möglichst einzuschränken suchen, 
z. B. in Hamburg, Krefeld, Giessen, Luckenwalde u. s. w. Sehr energisch 
ist in dieser Beziehung die Stadt Spandau vorgegangen. Sie hat folgende 
Polizei - Verordnung erlassen: 
§ i. 
Schulpflichtige Kinder dürfen in der Zeit von 7 Uhr nachmittags bis 
7 Uhr vormittags nicht zum Austragen von Backwaren, Milch, Zeitungen 
und anderen Gegenständen, zum Kegelaufsetzen oder zu sonstigen Ver 
richtungen in Schankwirtschaften, zum Aufwarten oder zum Handel mit 
Blumen oder anderen Gegenständen verwendet werden. 
§ 2. 
Uebertretungen dieser Polizei-Verordnung werden bei Eltern oder 
deren gesetzlichen Vertretern oder Personen, welche schulpflichtige Kinder,
	        
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