Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

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Ich muss hier eine Parenthese machen bei der Redensart: mun- 
dus vult decipi“ etc., denn ich bin wiederholt von Laien gefragt 
worden, wie es komme, dass der sei. Pfarrer Kneipp in seinem Buch 
so viele Arzneien empfehle. Hierfür kann ich nur die Erklärung 
geben, dass derselbe, als er zu doktern anfing, es nur wenig mit 
kultivierten Leuten seiner Umgebung zu thuu hatte, die doch mit 
der blossen Wasseranwendung nicht zufrieden, noch eine Flasche 
Medizin haben mussten. Ob nun Pfarrer Kneipp an der Wirkung 
seiner unschuldigen Arzneien geglaubt hat, oder sie nur empfahl, 
weil sie als Hausmittel gewissermassen sanktioniert waren, weiss ich 
nicht; erklärlich aber ist sein Verfahren, da ein junger prakt. Arzt, 
ein eifriger Anhänger des Naturheilverfahrens, der seine Praxis in 
einer kleinen Landstadt begann, auf eine Interpellation von seiten 
des Deutschen Bundes, bei dem er von einem neidischen Naturheil 
kundigen wegen seines Arzneiverschreibens gewissermassen verklagt 
war, offen eingestand, dass er keinen Erfolg und keine Praxis haben 
würde, wenn er nicht den Bauern neben der Empfehlung der An 
wendungsformen des Wassers eine grosse Eiasche mit irgend einem 
dunklen Syrup in Wasser gelöst verschriebe. — 
Auffallend ist mir allerdings, dass ich in meiner früheren, fast 
zehnjährigen Praxis, in welcher ich Arzneien verordnete und sehr 
häufig Arnika anwandte, nicht ein einziges Mal auch nur annähernd 
diesen „ wunderbaren“ Erfolg beobachtet habe. Wie es nun hier mit der 
„wunderbaren Wirkung“ der Arnika, die übrigens ein sehr unschädliches 
Mittel, ist, sich gezeigt haben soll, so steht es auch mit manchen 
Heilmitteln des Arzneischatzes, und man kann es dem profanum vulgus 
(unverständigen Volk), wozu ich allerdings auch einen grossen Teil 
der sogenannten intelligenteren Klasse des Publikums rechne, nicht 
verdenken, dass es an die Wunder der Arzneien glaubt, wenn es 
sieht und hört, wie z. B. eine oder einige starke Graben Chinin die 
Wechselfieberanfälle unterdrückt haben, wie die Quecksilberpäparate 
— der Fluch der ganzen Medizin — die syphilitischen Erscheinungen 
verschwinden lassen, aber von den traurigen Folgen und Nach 
wirkungen dieser „Heilmittel oder vielmehr Unterdrückungsmittel 
erfährt es nichts und nur die Einzelnen tragen ihr stilles Leid in den 
entsetzlichen Folgen der Zerstörung ihrer Gresundheit und beendigen 
oft ihr qualvolles Dasein in der Verzweiflung mit Selbstmord. Ich 
muss hier noch ein Mittel erwähnen, dessen Wirkungen man wohl 
mit vollem Recht „wunderbar“ nennen könnte. Ich meine das 
Morphium, welches im stände ist, den von . den schrecklichsten 
Schmerzen und Schlaflosigkeit Geplagten die Ruhe des Schlafes und 
Linderung für einige Zeit zu verschaffen, aber dennoch würde ich 
dies Mittel immer nur da anwenden, wenn ich den Tod des Patienten 
mit Bestimmtheit in kürzester Zeit voraussehe. Diese meine offene 
Erklärung im Verein der Vertreter der Naturheilmethode hat mir vor 
einigen Jahren — freilich von einem „befreundeten“ Blatt den Namen 
eines Kurpfuschers eingetragen, aber ich erkläre dennoch, dass 
ich mich durch die Beilegung dieses „Ehrentitels“ nicht abhalten 
lassen werde, bis zu meinem Lebensende den fast Verzweifelnden Ruhe 
und Linderung durch Morphium zu verschaffen, wenn unsere natür 
lichen Mittel nicht ausreichen. Einen interessanten Pall von der 
wunderbaren Wirkung des Morphiums glaube ich an dieser Stelle
	        
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