Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

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die Ansichten und Systeme so, als auf dem Gebiete der medizinischen 
Therapie. Das 17. Jahrhundert erzeugte gegen 1 f 2 Dutzend, das 18. Jahr 
hundert gegen 1 Dutzend und das 19. Jahrhundert gegen 2 Dutzend 
medizinische Systeme, und ein jedes machte den Anspruch auf Wissen 
schaftlichkeit. 
Dazu kommt noch, dass die jungen Aerzte ihr von der Universität 
mitgebrachtes Wissen sehr schlecht anzuwenden verstehen. In den 
Universitätskliniken und Krankenhäusern haben sie meist nur vollständig 
entwickelte Krankheiten, sogen, typische Fälle kennen gelernt. In der 
Praxis treffen sie aber die Krankheiten meist im Anfangsstadium an. Sie 
wissen sich dann nicht zu helfen. Ut aliquid fiat, damit aber etwas geschieht, 
wird darauf loskuriert — mit den stärksten Giften. Was sieht man doch oft 
für Rezepte von jungen Aerzten! Dazu kommt noch, dass der junge Arzt 
die naive Ansicht mitbringt, dass er alles heilen könne. Mit einem Eifer 
stürzt er sich auf die Kranken und „verarzt“ sie, dass ihnen „Hören und 
Sehen vergeht“, bis er endlich zu der Ueberzeugung kommt, dass er mit 
seinen drastischen Heilmitteln wenig nützen, aber viel schaden kann. Ein 
durch langjährige Erfahrungen geübter Praktiker, „Kurpfuscher“, schlägt 
dann mit Leichtigkeit den Herrn Doktor aus dem Felde. Nicht wir Kur 
pfuscher, sondern die Herren Aerzte sind es selbst, welche ihre Autorität 
brechen. Die Kurpfuscherei ist in der Unzulänglichkeit der medizinischen 
Heilmethode und in der mangelhaften Vertretung derselben begründet. 
Nicht gegen uns Kurpfuscher, sondern gegen die unzureichende und falsch 
geleitete Ausbildung der Aerzte muss sich Dr. Ad. wenden, gegen die Ur 
sache, nicht gegen die Erscheinung. Wenn die Herren Zunftärzte den 
Bedürfnissen des Volkes und den Fortschritten der Wissenschaft entsprechen 
werden, dann wollen wir Kurpfuscher gern abtreten. Es ist kein Vergnügen, 
fortwährend mit einem Fusse im Gefängnis zu stehen! 
Und viele von meinen Berufsgenossen würden sich gern eine akade 
mische Bildung aneignen, wenn sie nicht durch die sozialen Verhältnisse 
daran gehindert würden. Alles, was noch nicht die Anerkennung der 
Gesellschaft geniesst, wird nie von Priviligierten vertreten. Immer ist es 
•auf die Vertretung ausser der Zunft stehender angewiesen. Letztere können 
aber doch nicht den Bildungsgang der Zünftigen gehen. Oder waren die 
sozialdemokratischen Führer einst Regierungsräte ? Das sollte doch Dr. Ad. 
als Sozialdemokratin wissen. So lange also die Naturheilkunde nicht 
staatliche oder gesellschaftliche Anerkennung geniesst, wird sie sich mit 
Pastoren, Lehrern, Schäfern und Schustern, mit Leuten behelfen müssen, 
die „mit etwas halbverdauter Wissenschaft, viel gründlicher Unwissenheit, 
mner kindlichen Selbstgefälligkeit und dem besten Willen“ Gutes zu stiften 
suchen. Ganz wie die Sozialdemokratie! 
Dr. Ad. und sein oder ihr Anhang mögen gegen die Naturheilkunde 
eifern wie sie wollen, sie werden sie in ihrer Ausbreitung nicht hindern. 
Gerade der Arbeiter lernt am besten den Wert der medizinischen Wissen 
schaft an seinem Körper beurteilen. Darum zählt die Naturheilkunde dort 
die meisten Anhänger, wo die Sozialdemokratie am stärksten vertreten ist, 
■z. B. in Sachsen. Viele der besten Parteigenossen sind Anhänger derselben. 
Die meisten Sozialdemokraten haben sich bei der letzten Reichstags wähl für 
Kurierfreiheit, also für die Dr. Ad. so verhasste Kurpfuscherei erklärt. 
Immer waren es Sozialdemokraten, welche im Sächsischen Landtage die 
Naturheilkundigen verteidigten, z. B. Herr Frässdorf. Letzterer ist seit 
Jahren Vorsteher der Dresdener Ortskrankenkasse, einer der grössten 
Deutschlands; derselbe würde gewiss die Naturheilkundigen nicht in Schutz 
nehmen, wenn er nicht wüsste, dass sie den Verhältnissen entsprechend viel 
gutes leisten. Auch ist meine Schrift von einer Anzahl Arbeiterblättern, 
-darunter dem „Vorwärts“, lobend besprochen worden. Nur Unkenntnis der 
thatsächlichen Verhältnisse kann zu einem Urteil führen, wie es Dr. Ad. 
gefallt hat. Und damit kommen wir zu dem Grunde, warum Dr. Ad. und.
	        
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