Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

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geteilten Versuche mit Pestbazillen an zwei lebenden Menschen ! 
nicht zur Kenntnis des K. Ges.-Amtes gekommen sind. Wäre aber jetzt, 
nachdem die höchste Medizinalbehörde diese Kenntnis durch die Presse er 
langt hat, nicht die Erklärung angebracht, dass solche Experimente nicht 
im Einverständnis mit dem Kaiserl. Ges.-Amte gemacht worden und dass 
Massregeln getroffen seien, welche eine Wiederholung unmöglich machen? 
Es ist doch jedenfalls ein höchst unbehagliches Gefühl für jeden, einem 
Krankenhause überwiesenen Patienten, dass er möglicherweise „nebenbei“ 
noch Versuchsobjekt für die ihn behandelnden Aerzte spielen müsse, von 
denen er doch nur Heilung erwartet. — Nach den vom „Naturarzt“ in der j 
Märznummer d. J. und andern Blättern schon früher aufgedeckten haar- j 
sträubenden Vorgängen in Krankenhäusern hat das bekannte Schlagwort | 
vom „Pflichtbewusstsein der Aerzte, dem man vertrauen könne“, keine 
grosse Wirkung mehr. In Wien pfeifen es die Spatzen auf den Dächern, 
dass Prof. Nothnagel schon in Jena zu den grausamsten Vivisektoren ge 
hörte und dass er s. Z. das niedliche Tierexperiment machte, die Schädel 
von 20 Hunden anzubohren, um ihnen hierauf durch eine kleine Spritze 
scharffressende Chromsäure ins Gehirn zu bringen. Die meisten der Tiere 
starben am 2. und 3. Tage, 6 davon aber lebten unter entsetzlichen Qualen 
noch bis zum 17. Tage. Und was Nothnagel that, das thaten und thun die 
hervorragendsten Vertreter der modernen Medizin. 
Es muss also festgestellt werden, dass die — wie die Wiener Er 
eignisse zeigten' — für die Bevölkerung ausserordentlich gefährlichen 
Experimente in Berlin ebenso wie in Wien gemacht worden sind; es muss 
als festgestellt gelten, dass die Bevölkerung in einer grossen Gefahr schwebt, 
wenn nicht ein Verbot dieser Versuche erfolgt. Die Experimentatoren bieten 
uns keine Gewähr, ihnen steht die Befriedigung ihres „Eorschungsdranges“ 
höher als „Gesetz und Opfer!“ Die von der Presse gepredigte Vertrauens 
seligkeit wird hier nachgerade zum Verbrechen, denn sie duldet ein 
Damoklesschwert über dem Haupte des Volkes. Die Gesundheit geschützt 
von den Menschen- und Tier-Vivisektoren Nothnagel, Leyden, ,v. Bergmann, 
Hahn und deren Anhängern und Schülern — in der That, ein betrübendes 
Bild im Zeitalter hygienischer Reformen! 
Aber es wird die Notwendigkeit solcher Experimente betont und wir 
wollen an dieser Stelle darüber nicht rechten. Indessen kann doch wohl auch 
der für Tier- und Menschenexperimente sich begeisternde moderne Arzt nicht 
behaupten, dass gerade diese, nämlich die Pestversuche notwendig seien. 
Wozu denn? Das Studium des Krankheitsbildes zu ermöglichen? Bei dem 
seltenen Erscheinen der Krankheit in Europa genügt es, wenn eine kleine 
Anzahl Aerzte — wie es ja auch geschehen — die Krankheit in Indien, 
gleichsam am Krankheitsherd studiert. — Oder um ein Heilmittel zu finden? 
Das kann doch der Zweck der von den Serumhelden angestellten Versuche 
nicht gewesen sein, denn in „Haffkines Pestserum“ besitzen sie ja „ein trefflich 
wirkendes Heilmittel“. Und dass die Herren Aerzte an die Heilkraft des 
Mittels glauben, dafür spricht der Umstand, dass Dr. Marmorek zwei Liter des 
„Heilserums“ von Paris nach Wien brachte. — Hielt man also das Serum für 
ein Pestheilmittel, dann waren weitere Experimente bei ihrer Gefährlichkeit 
unnötig und müssen als frivole verwerfliche Spielerei bezeichnet werden. Hält 
man das Serum nicht für ein Heilmittel, (wie dies die Weigerung Dr. Müllers 
beweist, der jede Einspritzung entschieden ablehnte), dann waren weitere Ver 
suche mit Bazillenkulturen erst recht überflüssig und man hätte dem Volke 
auch die lächerliche, zur höheren Ehre der Serumtherapie veranstaltete Ko 
mödie ersparen können, die mit dem Pariser Pestserum Marmoreks aufgeführt 
wurde. Jedenfalls hat die moderne Bazillenzüchterei einen argen Stoss er 
litten, und wenn die Volksvertreter ihre Pflicht thun, so wird der schwarze 
Tod in Wien uns der Befreiung des Volkes vom Joche der Schulmedizin einen 
Schritt näher bringen. 
Mag der oberste Gesundheitsrat in Wien immerhin die moralische
	        
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