Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

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-volle Wirkungen wurden an ihm entdeckt, vor allem die Eigenschaft, das 
Empfindungsvermögen der Nerven abzustumpfen und schmerzhafte Zustände 
aller Art vorübergehend zu lindern. Speziell diese; letztere Eigenschaft, ein 
Nervengift zu sein, trug am meisten zum Bekanntwerden und zur Anwendung 
des Antipyriiis bei; ist doch die fin de siecle-Menschheit mit ihrem zer 
rütteten Nervensystem von so zahlreichen schmerzhaften Erkrankungen und 
.Zuständen periodischer Nervenüberreizung, angefangen von der schwersten 
Migräne bis zum relativ unschuldigsten Katzenjammer, heimgesucht, / dass 
•die Nachfrage nach Betäubungsmitteln in den letzten Jahrzehnten unseres 
Jahrhunderts in geradezu bedrohlicher Weise angestiegen ist. Hier kam ein 
Mittel, wie das Antipyrin, welches so angenehm einzunehmen war, so prompt 
wirkte und anscheinend so gut vertragen wurde, einem wirklichen Bedürfnis 
entgegen. War auch der Preis ein sehr hoher, so verlangte doch die ent 
nervte Menschheit — unfähig, Schmerzen zu ertragen, und noch unfähiger, 
durch eine vernünftige Lebensweise das Auftreten jener schmerzhaften Zu 
stände zu verhindern — so oft und laut nach Linderung um jeden Preis, dass 
jedes Mittel zu diesem Zweck willkommen und eifrig begehrt war. 
Eür die Eabrikation des Antipyrins wurden im Inlande und, so 
weit es ging, auch im Auslande die weitgehendsten Hechte erwirkt, was 
z. B. in Deutschland zur Eolge hatte, dass während eines Zeitraumes von 
15 Jahren niemand ausser dem Entdecker nach jenem Verfahren Antipyrin 
fabrizieren oder in patentfreien Ländern fabriziertes einführen durfte. 
Zwei Momente kamen nun noch hinzu, um das Antipvringeschäft zu 
einem ganz besonders einträglichen zu machen, einmal die in derselben 
Periode in Deutschland und Oesterreich inaugurierte staatliche Kranken 
versicherung, und zweitens das Auftreten der Influenza zu Ende der acht 
ziger Jahre. Eine solche Nachfrage nach Medikamenten im allgemeinen und 
nach einem einzelnen Mittel, wie das Antipyrin im besonderen, hatte der 
Arzneimittelmarkt bis dahin noch nicht gesehen, Und die glücklichen Patent 
inhaber, die Herren Meister, Lucius und Brüning in Höchst a. M., verstanden 
es denn auch, das Eisen zu schmieden, so lange es warm war. 
Als der Eirma schon sehr bald das Geschäft über den Kopf zu 
wachsen drohte, wandelte sie sich zur Aktiengesellschaft Höchster Farb 
werke um. Die Biesengewinne, welche diese Eirma aus dem Antipyrin ein 
heimste, kamen dadurch zustande, dass sie dasselbe bei einem Herstellungs 
preise von ca. 20 Mk. p. Kilo mit 110 Mk. auf den Markt brachte. Eür 
den konsumierenden Kranken war damit freilich der Höhepunkt der Aus 
beutung noch nicht erreicht; denn zwischen ihn und den Fabrikanten 
drängte sich nun noch der Grossist und Apotheker, welch letzterem die staat 
liche Arzneitaxe- noch einen weiteren Nutzen von über 100 Prozent garantierte. 
So gelangte schliesslich die Einzelgabe des Mittels (= 1 Gramm) bei einem 
Herstellungswerte von 2 Pfennig zum Preise von 30 Pfennig, also mit 
1500 Prozent Aufschlag in die Hände des Patienten. 
Waggonweise ging seitdem alljährlich das Antipyrin in aller Herren 
Länder; noch im Jahre 1897, wo im Auslande schon zahlreiche Konkurrenz 
fabriken entstanden waren, wurden doch noch 656 700 Kilogramm an das 
Ausland abgesetzt. Der Gesamtreingewinn, den die Eirma in den 15 Jahren 
erzielt hat, beziffert sich auf ca. 30 Millionen Mark; als Trinkgeld für den 
Entdecker sind in dem gleichen Zeitraum etwa 2 Millionen Mark ab 
gefallen. 
Und das Publikum? Je nun, — geheilt hat zwar das Antipyrin 
keinen einzigen Kranken, wohl aber ist durch die unsinnige Bekämpfung 
des Eiebers, dieses Selbstheilungsprozesses der Natur, mancher Patient'zu 
Schaden, wo nicht gar zu Tode gekommen; und bei allen jenen Unglücklichen., 
die das Antipyrin gewohnheitsmässig gebraucht haben, zur Unterdrückung 
der warnenden Stimme der Natur, die durch Krankheitserscheinungen 
schmerzhafter Art zu einer vernünftigeren Lebensweise ermahnte, sind der 
chronischen Antipyrin Vergiftung, dem Antipyrinsiechtum., überliefert worden,
	        
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