Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

'heitersten, freundlichsten Tone: „Hierher kommen Sie einmal', Herr Doktor, 
und betrachten Sie meinen Buben! Ist das nicht ein Prachtkerl? Backen 
zum Aufplatzen.“ — Siehe, das war ja die Brau Müller! Eine der Damen, 
die das Bechnen mit drei- und vierstelligen Zahlen längst verlernt haben 
und sich nur noch mit fünfstelligen abgeben, — im übrigen ein bescheidenes, 
•gebildetes Weibchen, mit dem ich sehr gerne verkehre; und ihr Erbprinz 
da in dem Wägelchen strotzte von Gesundheit. Natürlich hatte sie die 
helle Ereude an ihm, beugte sich über ihn und redete fortwährend zärtlich!! 
und lächelnd zu ihm mit einer Stimme, aus der das Mutterglück laut wieder 
hallte: ,,Du Spitzbub! Du Spitzbub! Ach, was bist Du ein böser Schlingel! 
Du Nichtsnutz! Du Nichtsnutz! Du musst Platzer haben.*) Sage: „Ach, 
Herr Doktor, bin ich einmal ein böser Bube!“ Ja, ja! Du bitter-bitter 
bitterböser Bube! Du Dieb!“ Dabei strahlte ihr Gesichtchen von Glück 
und Wonne, und sie kitzelte mit ihrem Finger den Sohn am Kinn und am 
Hälschen, dass er lachen sollte. 
Ich benutzte die erste kleine Pause und sprach: „Frau Müller!. 
Warum schelten Sie Ihr Söhnchen einen Spitzbuben und einen Dieb? Es 
hat doch nicht gestohlen. Und warum nennen Sie es einen Nichtsnutz, einen 
bösen Schlingel, der Schläge verdient habe? Es hat doch nichts Unrechtes 
gethan und kann nichts Unrechtes-thun.“ 
Da lachte sie laut auf, sah mich freundlich an und antwortete: „Aber, 
Herr Doktor, der versteht das doch nicht! Für den ist es doch einerlei, 
ob ich Engel oder Teufel zu ihm sage.“ 
„Gewiss“, erwiderte ich, „ist es jetzt noch einerlei, es kommt aber auch 
einmal anders; doch darüber sprechen wir gelegentlich ausführlich, wenn ich bei 
Ihnen zu Hause bin, und wir Zeit dazu haben. Ich wundere mich nur, 
dass Sie Ihr eigenes Kind lieber Teufel als Engel nennen. Wenn Sie 
Goldkindchen, Edelsteinchen, Stern äugelein, Juwel oder 
S o n n e n g e s i c h t c h e n zu ihm sagten, würde ich mich nicht wundern; 
aber Nichtsnutz, Spitzbube, Schlingel, — das ist doch eine sonderbare 
Art von Zärtlichkeit.“ 
Aufmerksam hatte sie zugehört, den Grundgedanken schnell erfasst 
und sprach jetzt freundlich: „Es ist aber auch wahr! Sie haben Hecht!’ 
Wie die Menschen nur auf den Einfall gekommen sind, ihre Kinder aus 
lauter Liebe zu schelten und zu schmähen!“ Dann wandte sie sich wieder 
ihrem Söhnchen zu und karessierte es mit den Worten: „Ja, mein liebes 
Gold-Engelchen, das haben sie einen Schlingel und Galgenstrick geheissen, 
und es ist doch ein gutes Kind, ein süsses Zuckerstängelchen. Aber das 
ist jetzt vorbei. Kein Mensch soll mir mein Edelsteinchen mehr schelten“, 
u. s. f. 
Lächelnd sprach ich: „So, Frau Müller! Das lautet doch ganz anders! 
Nun will ich Ihnen aber noch etwas sagen: Wenn Sie dem Kinde die 
.grösste Wohlthat erweisen wollen, dann lassen Sie ihm seinen Frieden, 
sprechen nicht fortwährend zu ihm, sondern gönnen ihm die ßuhe. 
Da wundert man sich und klagt über die schlechten Nerven und pulft doch 
auf sie vom ersten Lebenstage an. Ist es zu erstaunen, wenn sie schwach 
und überreizt werden? Ueberlassen Sie vorläufig die geistige Entwickelung 
des Kindes ganz sich selbst; körperliche Pflege und Ruhe, weiter braucht 
es vor der Hand nichts. — Fortsetzung folgt, wenn Sie, Ihr Herr Gemahl 
und ich wieder traulich beisammen sitzen.“ 
Sollte nun der geneigte Leser meinen: „So? Und das ist alles im 
Beisein der Magd verhandelt worden? Und die hat mit angehört, wie die 
Herrschaft gute Lehren bekommen hat?“ so antworte ich: „Ja! Das Ver 
hältnis im Hause Müller ist ein viel zu gesundes, als dass es hätte gefährdet 
werden können dadurch, dass ein alter erfahrener Graukopf dem jungen 
*) Bas heisst: Du musst Platzer bekommen, hast Platzer (das sind leichte 
Beklage) verdient.
	        
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