Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

mir zwar das Mädchen leid, dass es so von allen Freuden verlassen war,, 
noch mehr aber das Kind, weil es so gerüttelt und geschüttelt ward. Ich. 
blieb einen Augenblick stehen, — die Freudlose hörte auf zu singen, — dann 
trat ich näher und sprach: „Bitte* warum schieben Sie das Wägelchen fort 
während hin und her? Davon bekommt doch das Kind keine bessere, 
reinere Luft; liegt nicht weicher und bequemer in seinem Bettchen; 
wird nicht satt, wenn es Hunger hat, — kurz, es hat nicht den geringsten 
Nutzen davon: aber es wird erschüttert (wasihm doch nicht gut ist). Wenn 
Sie das Wägelchen ruhig stehen lassen, hat das Kind alles, was es haben 
kann.“ — Das Fräulein sah mich nachdenkend mit grossen Augen an, dann 
sprach ich noch: „Ueberlegen Sie nur selbst einmal, ob ich nicht Recht habe. 
Guten Morgen!“ und schritt weiter. 
„Ja“, eifert nun vielleicht Madame N. N., wenn sie Vorstehendes liest, 
„was soll die Kindermamsell denn thun? Ich trage ihr doch auf, dass sie 
mein Kind spazieren fährt. Dafür, dass sie sich behaglich hinsetzt, die 
Hände in den Schoss legt und singt: „Ich sterb’ vor Ungeduld“, — dafür 
bezahle ich sie nicht. Mein Kind soll bis zum Mittagessen und dann 
wieder bis zum Abend in der frischen Luft sein; ich mute der Mamsell 
nicht zu, dass sie vier Stunden lang ohne Unterbrechung marschiert, sie 
darf sich zwischen ein setzen, aber 'während sie ausruht, kann sie immer 
das Wägelchen hin und her drücken; davon wird sie nicht müde.“ 
Kann sein; aber dem Kinde wird die Ruhe gestört. — Einst be 
gegnete ich einer Mutter, die auf einem wenig begangenen Wege langsam 
dahinschritt, emsig strickte und das Wägelchen, dessen Rückwand ihren 
Leib berührte, ohne den Gebrauch der Hände so weiter schob. Wer 
nicht damit zufrieden ist, dass der Säugling in die frische Luft gefahren und 
da beaufsichtigt wird, sondern auch die Hände des Kindermädchens fort 
während beschäftigt, die Kraft der Wärterin aus ge nützt haben will, gebe 
ihr ein Strickzeug, oder etwas derartiges mit; die nutzloseste Häkelarbeit 
ist immer noch vernünftiger, als das Hin- und Herschieben des Wägelchens. 
Nun spricht eine Mutter: „Nach Ihrer Ansicht wäre es also das Beste, 
wenn man das Kind überhaupt nicht spazieren führe, sondern nur nach 
dem nächsten Platze, wo es reine, gesunde Luft hat, und das Wägelchen da 
ruhig stehen Hesse?“ 
Jawohl, so ist es! Und wer einen geeigneten Garten am Hause hat, 
kann die Fahrerei ganz und gar sparen. 
„Aber das ist doch entsetzlich langweilig für das arme Kind, wenn es 
keine Abwechselung hat, nichts neues zu sehen und zu hören bekommt! Es 
will doch unterhalten sein. Denken Sie sich einmal: Tag für Tag, von 
Morgen bis Abend in derselben Laube liegen, den nämlichen Baum 
sehen, immer die Schwarz am sei hören, — das ist ja zum Verrücktwerden!“ 
Vielleicht für den Erwachsenen, aber nicht für'den Säugling, der 
die Gegenstände umher und die Töne noch nicht unterscheidet; der erst 
ganz allmählich lernt und damit genug zu thun hat. Eine weitere 
Unterhaltung braucht er nicht, und wenn die Bilder fortwährend an 
seinem Auge vorüberziehen, und er keines festhälten, betrachten 
kann, so wird seiner geistigen Entwickelung nur damit geschadet, statt 
genützt. — 
Als ich auf meinem Spaziergange ein paar hundert Schritte weiter 
gegangen war, sassen da beisammen zwei Kinderpflegerinnen, die (einander 
zugekehrt) sich auf das Lebhafteste unterhielten; die eine schob das Wägel 
chen mit der Linken heftig hin und her und gestikulierte mit der Rechten, 
die andere hatte wahrscheinlich einen Bruder, der einmal Mechanikus werden 
wollte, denn sie schien Verständnis für Maschinenwesen zu haben: An der 
Rücklehne des Wägelchens hatte sie einen langen, starken Bindfaden be 
festigt, dessen anderes Ende sie mit der Hand hielt; jetzt gab sie dem 
Wägelchen mit dem rechten Fusse einen krampfhaften Tritt, dass es schnell 
davon fuhr, als sei es aus der Kanone geschossen (—es erinnerte mich lebhaft
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.