Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

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Menschen zn verleiten, blind den Buchstaben zu befolgen, ohne die innere 
Weisheit zu erfassen. Denn diese Vorschriften sind nach Ort und Zeit ver 
schieden, manchmal überdauern sie ihre Motive um Jahrhunderte und es kann 
kommen, dass jemand äuss erlich streng die Ceremonien halten und innerlich 
doch ungesund, unsittlich und unglücklich sein kann. An sich bedürfen weder 
die Sittengesefze noch die Gesundheitsregeln des religiösen Zwangs. Beide 
belohnen sich in sich, durch sich. 
Wir müssen das Gute thun um des Guten, das Naturgemässe um des 
Naturgemässen willen, nicht weil ein höherer Wille es befiehlt, nicht als Un 
freie, sondern als Herren über unseren Körper. Wer der Natur folgt, wird 
glücklich und gesund, wer ihr zuwider lebt, krank und elend. Nur dann 
können wir uns der Segnungen der Kultur erfreuen, wenn wir den Zusammen 
hang mit der Natur nicht verlieren, die dem Menschen stets neue Kräfte ver 
leiht wie dem Kiesen Antäus die Berührung der Mutter Erde. 
Diesen Zusammenhang zwischen Kultur und Natur zu er- 
irfften, ihn wiederherzustellen, das ist der grösste Gesichtspunkt, 
das vornehmste Ziel der Naturheilmethode. Sie ist ausschlaggebend 
für die Keligion der Zukunft, wie sie es für die Politik der Zukunft sein wird. 
Wahrlich! Wie könnte unser Leben sein und wie ist es. Die Natur 
hat ihren Geschöpfen einen sanften Tod zugedacht durch allmähliche Kiick- 
bildung aller Organe, durch Altersschwäche. Nur anscheinend unterscheidet 
sich jeder Tag wenig von seinem Vorgänger und Nachfolger. Wir durch 
ziehen unaufhaltsam die vier Jahreszeiten des Lebens: Kindheit, Jugend, 
Mannes- und Greisenalter, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, der Tod 
vergisst keinen. Unmerklich sollte der Abstieg erfolgen, langsam sollten wir 
dahin sterben, bis eines Morgens das nur noch leise flackernde Lebensfiämmchen 
erlischt. Wie wenigen Menschen ist heute noch dieses natürliche Ende be- 
schieden! Unser Leben währet 70 Jahre und wenn es hoch kommt 80 Jahre. Die 
Wissenschaft hat diese Angabe der Bibel über das natürliche Alter vollauf be 
stätigen können: Bei uns erreichen nur noch 18 von 100 dieses Alter. 
82 sterben vor der Zeit. Hier denkt mancher, es kommt mir nicht darauf an, 
ob ich 20 oder 30 Jahre länger anderen den Platz wegnehme. Da lässt sich 
denn nicht viel gegen sagen. In der That ist auch die Abnahme des Durch 
schnittsalters weniger bedeutungsvoll wie die Zunahme der Erkrankungen. 
Krankheit ist oft mehr zu fürchten, wie der Tod. Heute aber sind völlig ge 
sunde Menschen eine Ausnahme, wie es einst kranke waren. 
Liegen doch im gegenwärtigen Augenblick im Deutschen Reich 1300 000 
Menschen an der Schwindsucht darnieder, 200000 von ihnen werden das 
nächste Pfingstfest nicht erleben; das sind nicht schwächliche Kinder, nicht 
gebrechliche Greise, sondern Männer und Frauen in der Blüte der Jahre, im 
arbeitsfähigen Alter. 0, welche Fülle von Jammer und Verzweiflung schliessen 
diese Zahlen in sich ein. Da kann man wohl den Jubel, den Taumel der 
Begeisterung verstehen, der vor einigen Jahren die Menschheit ergriff, als 
wieder einmal ein neues Schwindsuchtsheilmittel auftauchte. Leider ging es, 
wie so oft zuvor: dem Anstieg, den Glaube, Liebe, Hoffnung nahmen, folgte ein 
kläglicher Abstieg. Der Feind blieb unbesiegt. 
Schon bei den Neugeborenen fängt das Elend an. Tausende von ihnen 
sterben im ersten Lebensjahre, weil sie das flotte Leben des Vaters biissen, 
oder die Eitelkeit der Mütter, die ihre eingesclmürten Brüste nicht zur Ent 
wickelung kommen Hessen. Von 1000 künstlich genährten sterben 610, von 1000 
Muttermilchkindern nur 82 im ersten Jahr. Wenn sie doch nur immer stürben! 
Fragt einmal in den deutschen Idiotenanstalten nach, wie viele Kinder blödsinnig 
sind, weil ihre Väter Trinker waren. 
Ist es denn wirklich ein unvermeidliches Uebel, dass, wie die Unfall 
statistik lehrt, in Deutschland jährlich in Friedenszeiten vom Schlachtfelde der 
Arbeit 10000 Mann tot, 400000 Mann leicht und schwer verwundet, davon ge 
tragen werden, eine Menge, die durch den Kiesenaufschwung unserer Industrie*
	        
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