Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

So verschiedenartig aber das Glücksideal auch ist, so ist es doch stet» 
an zwei Grundtriebe gebunden: an den Trieb, sich selbst und seine Familie 
— die Art — zu erhalten. Diese Grundlagen des Glückes teilen wir mit 
allem Lebendigen vom kleinsten Spaltpilz, von denen wir zwischen drei 
Fingern mehr fassen, als Menschen auf der Erde existieren, bis zu Goethe 
und Darwin, den Riesen des Gedankens. Um diese beiden Pole dreht sich 
der Daseinskampf. Um nicht unterzugehen, ersetzen wir die verbrauchten 
Stoffe durch ähnliche — wir essen; um den Körper vor den Schädlichkeiten 
des Klimas zu schützen, umgeben wir uns mit Gewändern und Wohnungen. 
Um den Kampf geordneter, gesitteter zu gestalten, schufen sich die Menschen 
die Arbeitsteilung, das Geld, Gesetze, Regierungen und Religionen. 
Die Lösung dieses Lebensproblems ist allerdings sehr verschieden 
schwer. Sie ist in den Tropen, der Urheimat des Menschengeschlechts, wo 
dank des Klimas die Sorge für Kleidung und Wohnung in Wegfall kommt, 
wo die Nahrung vom Baume gepflückt wird und Schuhmacher, Schneider, 
Fleischer x und Bäcker überflüssig sind, wesentlich leichter als in unseren 
Breiten, wo alles dem Boden abgerungen werden muss. Je mehr sich die 
Gattung Mensch mit unvergleichlicher Energie diesen Planeten zu eigen 
machte, um so entwickelter wmrde der Kampf ums Dasein, und je schwieriger 
dieser Kampf wurde, um so höher stieg die Kultur. 
Leider aber haben wir mit den Rosen der Kultur auch die Dornen 
in den Kauf nehmen müssen. Seit wir uns nach eigenem Willen und Gut 
dünken das Leben einrichten, seit der Verstand den Instinkt verdrängte und 
überflügelte, sind wir von dem Natürlichen mehr und mehr abgewichen und 
schädigen uns durch mangelhafte Kenntnis und Befolgung der Naturgesetze. 
Die Civilisation hat zudem die Lebenskraft abgeschwächt, und nicht mit 
Unrecht betrachtet J. J. Rousseau, der Naturphilosoph, in der vielgerühmten 
Civilisation die Hauptquelle des moralischen und physischen Elends. Der 
eigentliche Zweck unserer Thätigkeit ist durch die Kultur verdunkelt. Wir 
essen nicht mehr, um zu leben; viele leben, um zu essen und um sich den 
Magen zu verderben. Wir ldeiden uns nicht mehr, um uns zu schützen, 
sondern um die neueste Mode mitzumachen. 
Ueber das, was naturgemäss, zuträglich und gesund ist, herrscht bis 
in die gebildetst gekleideten Stände hinein die grösste Unkenntnis. Und doch 
ist die erste Bedingung zum Erfolg, ein „gesundes Tier“ zu sein, wie 
Herbert Spencer richtig bemerkt. Die gestörte körperliche und geistige 
Gesundheit ist die wichtigste Quelle gestörten Lebensgenusses, sie schafft 
Unbehagen, Verlust der Erwerbsfähigkeit, Sorgen und Not für die Familie 
und hemmt so die Grundbedingungen des Glücks, die Erhaltung der Person, 
die Erhaltung der Art. 
Diese Thatsachen erkannten vor allem auch die Religionsstifter und 
Gesetzgeber des Altertums, und keiner von ihnen versäumte neben sittlichen 
auch hygienische Vorschriften zu geben. Bibel und Koran, die Gesetzbücher von 
Buddha und Zoroaster sind wahre Fundgruben weiser Lebensregeln. Ich er 
innere aus der Bibel nur an das Gebot der Sonntagsruhe — du sollst den 
Sabbattag heiligen —, an die Verbote der Verwandtenehen, an die Speise 
gesetze, aus dem Koran an die Badevorschriften — vor jedem der fünf Tages 
gebete muss der Moslem Kopf, Brust, Hände und Füsse in fliessendem Wasser 
reinigen, sonst erhört ihn Allah nicht — und an das Verbot, berauschende 
Getränke zu gemessen. Wenn wir heute die religiösen Gebote lesen, welche 
die griechischen Priester den Wettkämpfern vorschrieben, die an den 
olympischen Spielen teilnehmen wollten, so könnte man glauben, sie seien von 
einem modernen Verfechter der Naturheilmethode verfasst. Wörtlich heisst es da: 
„Zweimal täglich Aufenthalt in Schwitzstuben mit Bürstenfrottierung und kalter 
Abreibung, Uebung der Glieder und abgemessene Ruhe, Einsalbung mit Oel, 
Verbot von Wein und von fleischlichen Genüssen, ausschliessliche Pflanzenkost.“ 
So verständig es zu jenen Zeiten war, den hygienischen Vorschriften den 
Stempel des Gottgewollten aufzudrücken, so hatte das doch den Nachteil, die
	        
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