Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

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selbst, ein von Hause aus schwächlich veranlagter Mensch, dem bis zu 
seinem neunten Jahr fünf Aerzte das Leben absprachen, lege Zeugnis 
davon ab, dass man ohne diese „stärkenden“ Getränke 81 Jahre werden 
und doch dabei zähe und widerstandsfähig bleiben kann. 
Ein weniger wichtiger, aber schon seit Jahrhunderten bestehender 
Irrtum ist der, dass man unter den Zeichen der Schwangerschaft den Zahn 
schmerz aufführt und ich muss gestehen, dass ich vor 55 Jahren, als ich 
meine Doktordissertation über die Zeichen der Schwangerschaft schrieb, 
denselben Fehler begangen habe. Ich kann wohl diese Ansicht mit wenigen 
Worten widerlegen, indem ich anführe, dass man den Zahnschmerz wohl 
für ein Zeichen derselben anerkennen könne, wenn er sich nicht durch die 
jetzt in der Zahnheilkunde sich bewährt habenden Mittel nach einigen Stunden 
und zwar durch Aetzung beim in der kariösen Höhle blossliegenden Nerven 
und durch allmählich immer wärmer werdende Mundspülungen beim 
Beginn der Wurzelhautentzündung, die sich durch Länger- und Locker 
werden des Zahnes charakterisiert, vertreiben liesse und dauernd bliebe. 
Hieran will ich noch die ziemlich oft ausgesprochene irrige Meinung an 
führen, dass der Patient an rheumatischem Zahnschmerz leide, ein Ausspruch, 
den namentlich die Aerzte sehr häufig anwenden, wenn sie alle ihre Rat 
schläge gegen den Zahnschmerz erschöpft haben. Sie bedenken aber nicht, 
wie lächerlich dieser Ausspruch ist, da in und am Zahn und in seiner Um 
gebung sich nichts befindet — nämlich Muskeln _oder Sehnen, die nur der 
Sitz des Rheumatismus sind — was Rheumatismus hervorlocken könnte. 
Der grösste Irrtum, der längste Zopf ist der, dass Arzneien die 
Krankheiten heilen können. Während ich diesen Satz niederschreibe, bin 
ich mir wohl bewusst, dass ich entweder den Zorn oder das höhnische Lächeln 
der Arznei verordnenden Kollegen errege, denn nach dem, was ich in 
meiner Studentenzeit und in meiner fast zehnjährigen sehr beschäftigten 
Praxis, in der ich selbst Arzneien verschrieb, sah, habe ich keine Krankheit 
durch Anwendung irgend einer Arznei wirklich heilen sehen. Ich räume 
gern ein, dass es Arzneien giebt, welche die Thätigkeit der Haut, der 
Nieren und des Darms anregen und dadurch eine wohlthätige Umwandlung 
des ganzen Stoffwechsels bewirken und dadurch zur Heilung führen können, 
wie das in früheren Zeiten die vorwaltende Idee war, jetzt aber betrachtet 
man den menschlichen Körper mehr als ein chemisches Präparat, das durch 
Hinzufügung eines andern chemischen Präparates — des sogenannten Heil 
mittels — in ein ganz neues, gesundes Präparat verwandelt werden kann, 
oder man sucht, seit Entdeckung der Bazillen, diese Lebewesen im mensch 
lichen Körper zu vernichten. Und welche Menge von Versuchen mit neuen 
Mitteln werden täglich gemacht, wobei dann, wenn einzelne Kranke nach 
der Darreichung dieses Mittels zufällig genesen — ich sage zufällig, denn 
dies sind solche, die auch ohne Einverleibung dieses Mittels genesen wären 
■— sofort dies Mittel als ein vorzüglich heilendes ausposaunt wird, um im 
nächsten Jahr wieder von der pharmaceutischen Bildfläche zu verschwinden 
und einem andern Platz zu machen. In keiner Wissenschaft werden so 
viel falsche Schlüsse gemacht, als in der Medizin, in der der schon neulich 
von mir angeführte Satz „post hoc, ergo propter hoc“ der hervorragendste ist. 
Es lässt sich nicht leugnen, dass es einzelne Arzneimittel giebt, die die 
Krankheit unterdrücken, wie das Chinin das Wechselfieber, das Salicin den 
Rheumatismus und am schlimmsten das Quecksilber die Syphilis — wie dies 
zugeht, ist weder chemisch noch physiologisch erklärt —, aber di© 
Folgen für den angeblich geheilten Kranken sind in Bezug auf ein ander 
weitiges Befinden, namentlich durch die gestörte Magen- und Verdauungs- 
thätigkeit und durch das beeinträchtigte Nervensystem meist lästiger als 
das zu heilende Uebel selbst. Dass man mit einer Familie, bestehend aus 
einer Frau und zwei Kindern, von Masern, Scharlach, Blattern, Typhus, 
Wechselfieber., Influenza, Herzaffektionen, heftigem Magenkatarrh und 
sonstigen Katarrhen der Brustorgane ganz ohne Arzneien genesen und
	        
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