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Süden bis zur senkenden Glut der äquatorialen Zone. Er bewohnt
reich gesegnete Länder, dürre und ertragarme Steppen gleicherweise.
Während ein Teil von uns seine Nahrung durch die Muskelkräfte seines
Körpers erwirkt, arbeitet ein anderer nur mit seinem Geiste. Während
dem einen das gütige Geschick alles sorglos in den Schoss wirft, muss
der andere ringen und mit den Elementen kämpfen, um sein kärgliches
Brot zu verdienen. So verschieden aber die Lebensbedingungen der
Menschen sind, so verschieden sind auch die Krankheitsursachen, die
Krankheitsformen, die Behandlung der Krankheiten. Es ist entschieden irrig,
die Ursache aller Leiden in erster Stelle im Unterleib zu suchen, und es gehört
grosse Naivität dazu, dieser Ansicht willenlos beizupflichten. Als ob der
Darm, die urinabsondernden Organe die einzigen Schleusen wären, durch
die der Körper seine Fremdstoffe abführt. Haben wir nicht als gleich
grossartiges Absonderungsorgan die Haut mit ihren zweieinehalbe Million
Schweissdrüsen? Ist nicht jede Drüse ebensogut eine Ausscheidungs-
stätte und muss nicht hierzu auch die Lunge als eine ganz gewaltige gas
artige Fremdstoffe absondernde Drüse gezählt werden? Auf was für schwäch
lichem Fussgestell steht ferner die Kuhnesche Fiebertheorie. Leuten, die nicht
naturwissenschaftlich zu denken gelernt haben, mag es ja gewaltig imponieren,
wenn sie hören, dass durch die Reibung der Fremdstoffe mit den einzelnen
Körperorganen Wärme entsteht, und dass diese Wärme eben das Fieber ist. Wo
bleibt aber dann die zweite Art des Fiebers, das kalte, von dem Herr Kühne in
seinem Vortrag sprach, und wie erklärt sie sich? Wenn Fieberhitze sich
durch Reibung entwickelte, — Herr K. denkt sich das vielleicht so, wie das
Feuer, das beim Reiben eines Zündholzes aufbrennt, — dann würde unser
Körper längst verbrannt sein durch die stete Wärmebildung bei der Reibung
des Blutstromes an den Wänden der Schlag- und Blutadern. Nein, so
einfach ist die Sache doch nicht. Es war aber überhaupt nicht meine
Absicht, an dieser Stelle Kritik zu üben, man lässt sich nur mitunter
von der eigenen Feder auf Wege führen, die gegangen zu sein uns später
mitunter gereut, weil wir oft einen Kampf heraufbeschwöien, dem wir
wohl uns gewachsen glauben, der aber einen Teil unserer wertvollen Zeit
ganz unnötig raubt. Nun, wer gerecht ist, wird zugeben müssen, dass
Kühne doch ein ganz eigenartiger Mann ist, dessen nicht geringstes Ver
dienst darin besteht, die Gesichtsausdruckskunde ausgebildet zu haben.
Neulich hat zwar jemand behauptet, die Sache sei älter und rühre von
Jackson Dawis her; nun das weiss ich nicht. Jedenfalls hat Kühne das
System ausgebaut und es für die Erkennung von Krankheiten zu verwenden
gewusst. Dass bei einer so jungen Wissenschaft oft grosse Irrungen unter
laufen, darf uns nicht wundern, pflegen doch auch Kinder noch nicht so
korrekt zu sein, wie Erwachsene. Ich gestehe offen, dass ich mitunter
über die Diagnosen gestaunt habe, die wir der Gesichtsausdruckskunde ver
danken; mitunter stimmt die Geschichte aber auch nicht, und das Gegenteil
des gesagten war richtig. Das ganze baut sich auf auf dem Prinzip
des goldnen Schnittes, und darin steckt ein gewaltiges Stück Wahrheit.
Es spielen ganz sonderbare Zahlenverhältnisse zwischen den einzelnen
Teilen des menschlichen Körpers; dieses gesetzmässige aber zieht sich nicht
nur durch die gesamte Tierwelt hindurch, sondern gilt auch für die Fauna
der Erde, ja gilt sogar für die Werke aus menschlicher Hand, deren Form
unseren Schönheitssinn nur dann befriedigt, wenn dieselbe sich nach der
Proportion des „goldnen Schnittes“ entwickelt. Dass man aus Ver
änderungen dieses Zahlenverhältnisses an unserm Organismus einen Schluss