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ist von Uranfang an bis heute noch kein solcher Erfolg erzielt. Es existiert
ferner auch kein wirklich beglaubigter derartiger Fall, der durch Na
turheilmethode wiederhergestellt worden wäre; ganz abgesehen von den
im Kuhneschen Lehrbuche beschriebenen Fällen, die ich zu wenig kenne,
um sie kritiklos als echt anzuerkennen, vermag ja Kühne überhaupt keine
Diagnose in unserem Sinne zu stellen. Uebrigens habe ich bei dieser
Dame, ich erwähne das hier ausdrücklich, keine Reibebäder angewandt,
nicht einmal streng vegetarische Diät. Die höchste Kunst des Heilens
besteht meiner Ueberzeugung nach nicht in der Behandlung nach gewissen
für immer ausgeprägten Schablonen, sondern in dem, was wir „Individu
alisieren“ nennen, in dem Anpassen des jedesmaligen Kurplanes an die be
sondere Eigenart des Kranken. Ich bin weit entfernt, daran zu zweifeln,
dass es viele Fälle giebt, deren Individualität dem Kuhneverfahren mehr
an gepasst ist, wie den anderen Anwendungsformen unserer Heil weise und
denen es daher ganz vortrefflich hilft. Wir dürfen dabei natürlich
nie vergessen, dass die strenge Regelung der Diät ein ganz hervor
ragender Heilfaktor ist, wenngleich Herr Kühne auch hierbei oft genug
in einseitiger Auffassung über das Ziel hinaus geht, (beispielshalber die
prinzipielle Entziehung der Milch). Es giebt aber noch weit mehr
Kranke, die dieselben, wenn nicht noch bessere Kuren mit der gewöhn
lichen Naturheilmethode, wie mit dem Kuhneverfahren machen würden.
Dass sie aber nicht zu uns gekommen sind, sondern zu Kühne, wird
jeder verstehen, der für die metergrossen Buchstaben der Reklame nicht
blind ist. Eine dritte Gruppe bilden alle die Kranken, für die die ope-
rations- und arzneilose Heilkunst überhaupt nicht passt, denen sie in
folgedessen auch platterdings nichts nützt. Ich erwähne auch hierzu
einen Fall, einen jungen Mann mit einer Neubildung am Halse, der
unter meiner Leitung strengste Kuhnekur machte, aber ohne Erfolg. Je
kritischer wir daher beobachten, um so mehr kommen wir von letzterer
Heilweise auf das allgemeine Naturheil verfahren zurück, aus Gründen,
für die ich ungezählte Beweise in einer Menge von Krankengeschichten
niederlegen könnte. Ganz unbestreitbar haftet der Kuhnekur eine ge
radezu verblüffende Einseitigkeit an. Sie ist das Prokrustesbett unserer
Heilweise. Was nicht hineinpasst, wird gestreckt oder gekürzt, bis es
sich entsprechend fügt. Wenn ich mir hier ein Urteil erlaube, so erachte
ich mich um so eher dazu berechtigt als ein anderer Arzt, weil ich
in Leipzig in der Lage bin, so manchen früheren Kuhnianer unter die
Hände zu bekommen. Der geistvollste Vertreter dieser Kur, Lothar
Volkmar in Berlin, hat wohl nie ihre Mängel öffentlich zugestanden.
Erkennt er sie aber nicht stillschweigend an, wenn er zu Heilzwecken in
seiner Anstalt auch die Korscheltschen Aetherstrahlapparate und Umschläge
verschiedener Art verwendet? Es giebt eben keine Universalmittel, und die
Panacee für alle Krankheiten dürfte niemals erfunden werden. Infolge dessen
kann auch der Kuhnismus, dieser wilde Schössling am Baume der Physiatrie,
keine Allheilkur sein. Jedem, der etwas denkt, muss das sofort einleuchten.
Es giebt, um etwas darwinistisch auszuholen, keine Tiergattung in der ganzen
Schöpfung, deren Einzelwesen so verschieden von einander sind, wie die
Gattung: Mensch. Während mit Ausnahme der Haustiere, die sich ge
wöhnt haben, den Herren der Schöpfung überall hin zu folgen, ein und
dieselbe Tierart unter ziemlich gleichmässigen Verhältnissen lebt, sind
unsere Existenzbedingungen äusserst verschieden. Der Mensch bevölkert
alle Breiten der Erde von den eisumgürteten Polen am Norden und