Volltext: Der Naturarzt 1894. (1894)

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glauben, dass bei dieser Neugestaltung auch der Chirurg das 
Feld räumen müsste. Das sind Utopien! Es giebt keine operations 
lose Heilkunde, trotz Kühne. Auch wir heilen vieles und haben 
bereits vieles ohne Messer und Scheere und Nadel geheilt, wo 
schied iterdings von andern Aerzten geschnitten werden sollte, dünken uns 
aber noch längst nicht so klug, um jedes operativen Eingriffs entraten 
zu können. Wenigstens gehört ein gehäufter Scheffel von Fanatismus zu 
dem Glauben, Knochenbrüche nur mit Wasser oder gar Reibebädern 
heilen zu können. Ich weiss, dass diese Betrachtung mich auf eine Bahn 
führt, auf der ungezählte Verehrer Kuhne’s sich mir entgegen 
stellen. Nun, ihnen allen kann ich versichern, dass ich auch eine Zeit 
lang ein begeisterter Anhänger dieses Herrn war, und dass diese Be 
geisterung mir manche bittere Stunde von seiten hiesiger Aerzte ein 
brachte. Es mag jetzt wohl 5 Jahre her sein, es war zu einer Zeit, 
wo ich noch, wie man früher sagte „ä deux mains“ kurierte, das heisst 
ich war noch nicht vollüberzeugter Naturarzt und hielt hier und da die 
Anwendung eines Medikamentes für nötig. Die Fjeudigkeit im Berufe, 
die ich damals fast ganz entbehren musste, kam erst allmählich, als ich 
langsam begreifen lernte, wie wenig der Mensch und wie sogar nicht 
die Arznei heilen kann —Schmerzen nehmen durch Betäubungsmittel ist ja 
keine Heilung, wenn andererseits unleugbar daraus für eine Reihe ope 
rativer Fälle ein grosser Segen erwächst. — Mein Wirkungskreis war 
eine kleine Stadt am Fusse des Erzgebirges, in der seit kurzem ein 
Naturheilverein aufblühte. Da hörte ich denn so dies und das von den 
Erfolgen der arzneilosen Heilkunst, glaubte aber anfangs nicht recht 
daran, wie alle Mediziner es nicht glauben wollen. Aber, als sollten 
diese Mahnungen immer dringlicher an mein Ohr klingen, so erhielt ich 
aus Leipzig von einem Freunde ein Quartal der „Neuen Heilkunst“ zuge 
sandt, dessen Inhalt mich unendlich beglückte und mit einem bis dahin 
nicht gekannten Wonnegefühl über den Beruf eines ärztlichen Helfers 
erfüllten. Hier erschien jede Krankheitsheilung so leicht, so selbstver 
ständlich — aus der Feder Lothar Volkmars fliessen die Worte ebenso 
geistvoll, wie begeisternd — dass der Arzt nunmehr nur noch Segen ins 
Heim des Kranken tragen konnte. Leider aber sieht so manches Ding 
so ganz anders in der Wirklichkeit ans, wie auf dem Papier. Um nur 
eines zu erwähnen, haben wir zum Uebermass von der Gewissheit der 
spielend leichten Heilbarkeit der Diphtherie durch die Naturheilmethode 
gehört. Das ist freilich nicht schwer, wenn man allerlei Halsentzün 
dungen mit Belag als Diphtherie bezeichnet. Und so geht es mit vielen 
ähnlich schlecht beleumundeten Krankheiten, die dieser oder jener geheilt 
haben will. Mit diesem Satze würde ich mir selbst das Urteil sprechen, 
man könnte sehr wohl sagen, die Speiseröhrengeschwulst der alten Dame 
war eben kein Krebs. Dagegen führe ich ins Feld, dass sowohl der be 
handelnde Arzt der Dame, wie ich die gleiche Diagnose aufCarcinom 
stellen musste, weil der Sitz des Leidens, wie das Alter der Kranken 
und der Verlauf der Krankheit jede gutartige Neubildung ausschlossen 
und wenn es mir auch nur gelungen wäre, die Symptome dieser furcht 
baren Krankheit zu beseitigen, wenn die Naturheilmethode imstande war, 
bei einer fast Verhungerten die Möglichkeit der Speiseaufnahme wieder 
hinzustellen, wenn durch unsere Anwendungsformen neue Kraft, neues 
Leben in den siechen Körper kamen, den die Patientin kaum noch tragen 
konnte, so stehen wir selbst damit vor einem Unikum. Von der Allopathie
	        
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