Volltext: Der Naturarzt 1894. (1894)

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Aus Wissenschaft und Leben. 
Eine bedauerliche Inkonsequenz. 
W. Siegert, Berlin. 
Bei Gelegenheit einer Vereinsversammlung erörterte man lebhaft die 
Frage, oh sich jemand noch „Naturarzt“ nennen dürfe, der in den letzten 
Stadien einer Krankheit, wenn jede Hoifnung auf Heilung ausgeschlossen 
erscheine, zur Linderung der Schmerzen Morphium verschreibe. Es wurde 
darauf hingewiesen, dass man den Angehörigen natürlicherweise jeden 
Zweifel darüber benehmen solle, dass das Gift nicht „heile“; man betonte 
ferner, dass schwere Operationen ohne die Anwendung von Chloroform 
oder anderer Narkotika kaum ausführbar seien — vergebens! Die Geg 
ner blieben dabei, dass unsere „arznei- und operationslose“ Heilweise um 
des Prinzips willen niemals ein Auge zudrücken dürfe. Mache man erst 
derartige Zugeständnisse, so gerate man bald auf eine schiefe Ebene, 
und kein Aufhalten sei mehr möglich. Nach der Versammlung spannen 
wir „beim Glase Bier“ den Faden weiter. Als ich meinem Nachbar,, 
der besonders schneidig für die Abweisung jeder Arznei ins Zeug ging, 
sagte, er selbst stehe im Verdachte, öfter Gifte zu nehmen, musste ich 
mit meiner Limonade schleunigst ein Endchen abrücken. Ich solle meine 
verleumderische Behauptung beweisen, hiess es. „Der Beweis steht vor 
Ihnen,“ gab ich zur Antwort; „Sie trinken jetzt das 3. Maass Bier.“ — 
„Na, das ist doch so schlimm nicht,“ wurde erwidert; „Bier ist doch 
kein Schnaps.“ Von den damals am Tische Sitzenden haben seither zwei 
fast volle Enthaltsamkeit geübt. Vielleicht interessiert es den oder jenen 
Leser, zu erfahren, wie an jenem Abende dies Kapitel aus der Gesund 
heitspflege behandelt wurde. Darum mags hier stehen; schaden wird» 
ja wohl niemandem. 
Vorerst sei bemerkt, dass es mir zunächst darauf ankam, von 
unseren „unschuldigen“ Getränken den Schleier etwas zu lüften. 
Unser gewöhnliches „Lagerbier“ enthält unter 100 Teilen 4—5 Teile 
Alkohol (Berliner Patzenhofer 4 %; Königstadt 4 l / 5 ; Pilsener 4, 6; 
echt Bairisch 4—5, 5; Berliner Weissbier nahezu 4%); stärkster Trink 
branntwein etwa lOmal so viel (Nordhäuser 40—44, Cognac 43—58%)'. 
In 5 Glas Bier geniesst man mindestens so viel Alkohol, wie in einem halben 
Bierglas voll Nordhäuser. 
Unsere Tischweine haben etwa doppelt soviel Alkohol wie Lagerbier 
(Pfälzer- und Mosel- 7—9 %, Rheinwein 9—10 %, Bordeaux 9—14 %). 
In 4 Glas „Rotwein“ geniesst man soviel Alkohol wie in 1 Weinglas 
voll Cognac. Die Frühstücksweine enthalten etwa 3 mal soviel Alkohol 
wie Bier (Portwein 15, Sherry 14—18, Madeira 16—20 %) und entsprechen 
in ihrem Alkoholgehalt unserm gewöhnlichen Trinkbranntwein. Der 
Gourmand, der bei Dressei „Unter den Linden“ frühstückt, hat somit 
gar keine Ursache, hochmütig auf den Kümmelbruder herabzusehen, der 
in der nächsten Destillation seine „grosse Strippe“ trinkt. Sie gemessen 
beide denselben Stoff in etwa derselben Menge, nur unter anderer 
Etiquette. Denn was man über die Unschädlichkeit oder gar Zuträglich 
keit fuselfreier Getränke fabelt, ist nichts weiter als das Feigenblatt, 
mit dem diejenigen ihr Gewissen decken, die am Spirituosenverbrauch ein 
Interesse haben.
	        
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