Volltext: Der Naturarzt 1892 (1892)

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am Unterleibe eine fortwährende Ansammlung von Wärme stattfindet, die 
naturgemäß eine stärkere Transpiration der Haut und damit eine leichtere 
Disposition zu Unterleibserkrankungen aller Art mit sich bringt, wie wir sie 
leider fast täglich an unseren Frauen zu beobachten Gelegenheit haben. Trotz 
seiner vielen Vorträge gerade über diesen Punkt kommt es selbst in Wöris- 
hofen vor, daß tauben Ohren gepredigt wird. Kommt eine Dame mit Korset 
oder anderen Modethorheiten in die Sprechstunde, wie ich es einige Mal 
zu beobachten Gelegenheit hatte, dann ist der Pfarrer durchaus nicht fein 
und fertigt eine solche Dame vor der ganzen Korona in nicht gerade schmeichel 
hafter Weise ab. Ja, er hat sich schon so oft vorgenommen, Damen keine 
Sprechstunde zu bewilligen, hat es aber bei seiner Gutherzigkeit noch nicht zur 
Ausführung gebracht. 
Durch Pfarrer Kneipp ist auch wieder das Leinen zu Ehren gekommen. 
Er bezeichnet die Wolle als einen Missethäter an der menschlichen Natur, 
oder, wie ebenso treffend Profeffor Dr. Sommerbrodt sagt: „Die Wollklei- 
düng ist das Gift des Jahrhunderts." Wenn man sowohl am eigenen Kör 
per, wie bei den meisten seiner Patienten die Erfahrung gemacht hat, daß 
durch Wolle das ganze Heer der jetzt so stark herrschenden Katarrhe,-Rheuma 
tismen rc. eingeführt worden ist, so kann man obigen Aussprüchen nur 
aus vollem Herzen beipflichten. Das Leinen aber ist seit Jahrtausenden bei 
den verschiedensten Völkern als zur Unterkleidung am durchaus geeignetsten 
befunden worden und hat sich als solches auch durchaus bewährt; und wir 
sollten auf einmal anders geartet sein, so daß wir dieses Gewebe an unserem 
Körper nicht mehr ertragen können? Freilich in der Form, wie das Leinen 
gewebe jetzt getragen wird, ist es ebenso schädlich, ja noch schädlicher als 
Wolle. Deshalb ist es ein Verdienst der Augsburger Leinenspinnerei, 
Gewebe nach den Grundsätzen des Pfarrer Kneipp angefertigt zu haben. Wer 
sie nur einmal an sich probiert hat, wird sie gewiß nicht wieder bei Sette 
legen. Es entsteht nun die Frage, ob das Leinengewebe allein im Winter 
für unsere heutige Generation, dienoch nicht andie Temperaturunterschiede der Stube 
und Außenluft durch Abhärtung gewöhnt ist, genügt. Ich meine halt, wie 
die Natur den Tieren ein Winterkleid schafft, damit sie sich gegen die Kälte 
schützen können, so muß auch der Mensch in dieser Jahreszeit sich eine besser 
schützende Hülle verschaffen. 
Nach meinen an mir-selbst, sowie an meinen Patienten gemachten 
Erfahrungen genügt zu dem Zwecke ein Leinenhcmd und darüber ein 
Dr. Lahmann'sches Reformbaumwollenhemd. Man wird, wenn man den Versuch 
machen will, sich überzeugen, daß man selbst bei großer Kälte eines Pelzes 
nicht bedarf. 
Nachdem ich nun das Hauptsächlichste in dem Wesen der Kneipp'schen 
Kur besprochen, will ich versuchen, in Kürze vom Standpunkte eines Natur 
arztes die mir hierbei aufgetauchten Bedenken gegen einzelne Formen dieser 
B-handlungsweise zum Ausdruck zu bringen. Ich verwahre mich allerdings 
von vornherein dagegen, eine Kritik an der selbstlosen, idealen Handlungsweise 
dieses Ehrenmannes auszuüben; ich will vielmehr die wissenschaftlichen An 
hänger der Kneipp'schen Methode dahin zu bringen suchen, meine Bedenken 
nicht theoretisch, sondern durch die Praxis zu prüfen, um schließlich doch auch 
zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß wo viel Licht ist, auch viel Schatten sich 
einzustellen pflegt. 
Es ist schon des Oefteren in diesen Blättern gerügt worden, daß die 
Naturheilmethode namentlich in ihren Wafferanwendungsformen viel zu sehr 
verweichlicht worden ist. Man arbeitet viel zu viel mit Dampf und zu wenig
	        
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