Volltext: Der Naturarzt 1889 (1889)

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Wasserbehandlung und Lustzufluß in die Krankenstuben in ärztlichen Kreisen 
so schroff ablehnend sich verhält, so ist dies unzweifelhaft das Verdienst von 
Prießnitz, Schroth u. et.; aber es ist noch so viel des alten Schlendrians, 
namentlich auf dem Lande, von der früheren Zeit übrig, daß das Errungene 
nur mühsam seinen Siegeszug fortsetzt. 
2. Die dem Menschen fast angeborene Scheu vor dem Wasser. Ich bin 
überzeugt, und kann es durch unzählige Fälle beweisen, daß ein großer Teil 
der Menschen, nachdem sie als Wickelkinder täglich gebadet, später mit keinem 
Tropfen Wassers ihren Körper benetzt haben, bis wieder das Todtenbett das 
erste und letzte Reinigungsbad ihnen gebracht. Drastisch hierfür ist ja auch 
der Ausspruch eines Stadtverordneten oder Stadrates in Oppeln — die Sache 
machte damals die Runde durch fast alle Zeitungen — als es sich darum 
handelte, eine Badeanstalt von Seiten der Stadt zu errichten: „Ich bin 
56 Jahr alt, habe kein Bad gebraucht und bin dennoch ganz gesund, warum 
sollten wir für etwas so Unnützes eine große Menge Geldes zum Fenster 
herauswerfen." Es ist ja durchaus nicht zu leugnen, daß es eine gewisse 
Überwindung kostet, wenn man von Jugend auf nicht daran gewöhnt ist, sich 
plötzlich den Oberkörper täglich mit frischem Wasser abzuwaschen; aber schon 
nach einigen malen ist die Scheu überwunden, und man empfindet bereits ein 
Bedürfnis darnach. Doch mehr noch als die Scheu vor dem Wasser ist 
3. die dem Menschen im allgemeinen innewohnende Bequemlichkeit, der 
Naturheilmethode sich nicht im ganzen Umfange zuzuwenden. Die Allopathen 
behandeln zum größten Teil mit Medikamenten, die einzunehmen nicht so sehr 
schlimm ist: die Homöopathen mit ihren Kügelchen in der so und sovielsten 
Potenz, wobei sie freilich auch eine ziemlich strenge Diät — ihren eigentlichen 
Heilfaktor nach meiner Meinung — beobachten lassen. Da letztere Methode 
außerordentlich bequem ist, haben die Homöopathen gerade in den vornehmen 
Kreisen so sehr viel Anhang, weil diese Leute selbst in der Krankheit etwas 
von dem gewöhnlichen Troß abweichendes oder doch bequemes haben müssen. 
Und nun, was verlangt die Naturheilmethode? Sie verlangt vor allem bei 
einer halbwegs schweren Erkrankung die peinlichste und aufmerksamste Ausführung 
der ziemlich umfangreichen Anordnungen. Das ist aber auf dem Lande — ich 
spreche natürlich von der großen Menge der weniger Bemittelten — wo jede 
Person nm Haushalt ihre Arbeit angewiesen erhält und auch ausführen muß, 
wenn anders nicht ein merklicher Rückschritt im" Erwerb eintreten soll, 
überaus schwierig zu erreichen. Den Angehörigen bleibt leider wenig Zeit, sich 
mit den Kranken abzugeben, vielweniger noch die Anordnungen des Raturarztes 
auszuführen. Zwei- bis dreistündlich einen Eßlöffel Medizin dem Kranken zu 
reichen, diese Zeit erübrigt man sich, mehr aber auch nicht. Pfleger oder 
Pflegerinnen- sind aber daselbst außerordentlich selten; wenn solche vorhanden 
— und dann gewöhnlich alte, selbst kränkliche Frauen — sind sie so wenig 
unterrichtet und meist in die veralteten Charlatanerieen so eingefleischt, daß die 
Anordnung naturgemäßer Heilfaktoren meist mehr Schaden als Nutzen stiften 
würde. Deshalb bildet sich gerade auf dem Lande gegen die Naturheilmethode 
eine gewisse Gleichgültigkeit aus, und die Leute pflegen zu sagen: „Mir ist doch nicht 
mehr zu helfen, und wenn ich alles das machen soll, was mir der Doktor 
anrät, dann will ich lieber sterben!" Daher muß das Bestreben unserer 
Vereine dahin gehen, den Staat zu zwingen, Männer und Frauen Unterricht 
in den Anwendungsformen der Naturheilmethode erteilen zu lassen, diesen dann 
einen Bezirk anzuweisen und sie mit einem geringen „Wartegeld" bedenken, damit 
sie namentlich in Fällen der Not, wo die Familienmitglieder ihren Kranken 
keinen Pfleger abgeben können, die Anwendungen des Arztes ausführen.
	        
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