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„Bei W. Jßleib in Berlin erschien: Scharlachfieber, Disteritis von Canitz, Schulkrank-
heiten von Siegert — naturgemäße Mund- und Zahnpflege von Oberst-Lieutnant Spohr etc."
In der Kritik am Schlüsse heißt es: „Die in ihnen enthaltenen Ratschläge über Be
handlung aber verdienen die härteste Beurteilung, denn sie stehen im grellen Widerspruch
mit Allem, was die Wissenschaft als sicher erkannt hat re. „Wenn Herr Oberst-Lieutnant
Spohr Zahnschmerzen bei menstruirenden Frauen durch Sitzbäder beseitigen zu können glaubt,
so wollen wir ihn in seinem Glauben nicht weiter irre machen — diese Kasern enblüthe aber
in die „Flores" der deutschen Pharmakopöe aufzunehmen, halten wir doch für etwas zu
gewagt. Ähnliche Ratschläge enthalten auch die anderen Schriften, auf die näher einzugehen
wir weiter keine Veranlassung haben/'
Diese Kritik verdient doch etwas niedriger gehängt zu werden, zunächst wegen des
Tones, in welchem dieselbe über Dinge, welche Wohl und Wehe vieler Tausende betreffen,
aburteilt. Daß sich die Grundsätze und Lehren der Naturheilkunde in grellem Gegensatz
zu einer Heilkun st befinden, welche mit tödlichen und schädlichen Giften aller Art Gesundheit
verbreiten zu können glaubt oder vielmehr vor giebt, ist allbekannt und bedürfte nicht unserer
Hervorhebung. Sitzbäder in die „deutsche Pharmakopöe- aufzunehmen, wäre für erstere
eine sehr sonderbare und zweifelhafte Ehre. Die Blüten der deutschen Pharmakopöe
sind nicht so unschuldiger Natur. Wir wünschen der „deutschen Pharmakopöe ihre privile-
girte Stellung als Sammlung der staatlich zur Gesundheitswiederherstellung gestatteten
Gifte — natürlich nur auf solennes reeipe eines Dr. raed. — bis zu dem Tage gewahrt
zu sehen, wo sie das Schicksal der ihr vorausgezogenen Pharmakopöen teilt, nämlich in die
Rumpelkammer geworfen zu werden.
Wenn dem Herrn R. aber die Ratschläge unseres Mitarbeiters so sehr bedenklich
erschienen, dann wäre wohl eine ruhige und sachgemäße Auseinandersetzung über das „Warum"
dieser Gefährlichkeit mr Interesse der vielen Tausende, die diese Ratschläge befolgen, ange
zeigt gewesen und nicht ein Ton von Süffisance (einen entsprechenden deutschen Ausdruck
giebt es nicht), der kennzeichnend ist für die Gleichgültigkeit des Kritikers gegenüber dem
Wohl und Wehe seiner Mitmenschen. Glücklicher Weise stehen der Naturheilkunde schon ebenso
viele Tausende unzweifelhafter Erfolge zur Seite, wie der Medicin Millionen und Milliarden
von Mißerfolgen. Gern wollen wir zugeben, daß wir alle unsere Patienten nach den
Grundsätzen der Medicin -ganz falsch behandeln: vielleicht genesen sie nur
eben darum! Und insofern erinnert diese ganze Kritik an das unvergleichliche Epigramm
Sanitätsrat Dr. Niemeyers, der bezüglich des wissenschaftlich für unheilbar erklärten,,
aber dennoch genesenen Patienten den „wissenschaftlichen Arzt" zu dem, welcher den Patienten
rettete (vermutlich einem Naturarzt), mit Emphase sagen läßt: „Dann haben Sie ihn
falsch behandelt"!
Herr Oberstlieutenant Spohr glaubt nicht nur, menstruirende Frauen von rasenden
Zahnschmerzen mittelst Sitzbädern besreien zu können, sondern er hat dies in mehreren Fällen,,
ausnahmsweise, weil die andern Hcilformen versagten und das Leiden in solcher Höhe auf
trat, daß Hülfe geboten erschien, mir vollem Erfolge und ohne jeden anderweitigen Nachteil
gethan. Darüber liegen dem Schreiber dieses Zeugnisse so geheilter Damen vor.
Die Naturheilkunde hat überhaupt die Erfahrung gemacht, daß die Menstruation
durchaus kein Zustand ist, welcher ern naturgemäßes Verfahren, z. B. milde Halbbäder bei
Typhus und Lungenentzündung, Sitzbäder bei Kopfrose und Zahnschmerzen u. s. w., aus
schließt, und braucht daher die betr. Patientinnen durchaus nicht aus übergroßem Respekt vor.
einem ganz natürlichen Vorgänge ohne Hülse zu lassen, oder gar den Giften der Medicinen
die allerdings ohne alle Scheu vor diesem immerhin das Nervensystem in eine gewisse Erreg
barkeit versetzenden Zustande verschrieben zu werden pflegen — zuzuweisen.
Daß und welche Rücksichten aber auch die Naturheilkunde diesem Zustande derFraueir
bei der Krankheitsbehandlung widmen zu müssen glaubt, geht eben aus oer Schrift des Herrn
Oberstlieutenant Spohr S. 54 hervor, wo die Anwendung des Sitzbades als eine ausnahms
weise in der Anmerkung erwähnt ist.
Wenn der Herr Kritiker in der Zeitschrift Reclam's diese ausnahmsweise Anwen
dung des Sitzbades als eine umgekehrte Reklame für das Naturheilverfahrcn benutzen zu
können und dann ganz allgemein auch die Ratschläge der übrigen naturärztlichen Schriften
als ,,ähnlich" anzureihen sich erlaubt, so sieht männiglich klar, worauf es abgesehen ist: vor
der Naturheilkunde gruselig zu machen und das Publikum den Gifttöpfen
der Medicin wieder zuzutreiben! Denn merke wohl, deutscher Mitbürger, milde Sitz-
b äder müssen bei menstruirenden Frauen unterbleiben, auch wenn sie von den wahnsinnigsten
Zahnschmerzen befreien können, aber Creosot, Opium, Laudanum u. s. w., die könnensie
nehmen!
O heilige Einfalt!
Ende Juli 1889.