Volltext: Der Naturarzt 1889 (1889)

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die Zeit, wo auch die Pforten der medizinischen Hörsäle stch der Naturheilkunde 
öffnen, und dann wirds anders, besser werden. 
Bis dahin aber wollen wir unbeirrt den Kampf für die gute Sache ver 
fechten und auch in diesem Jahre muthig weiter führen. 
Aus Dr. Schindlers Praxis. 
Von Philo vom Walde. 
Am 16. Juli 1888 saßen wir bei Dr. Schindler in Gtäfenberg am Mittagtische und 
berieten über die große Wohnungsnot. Da kam ein Wagen angefahren, und ich eilte hinaus, 
den Fremden zu begrüßen. Es war ein großer, hagerer Mann von mittlerem Alter. 
Sein Gesicht war lang, eingefallen, mulattisch-aschgrau, die Kopfhaare negerartig gekraust. Die 
Augen, schwarz wie die Nacht, blitzten mir wie ein Paar spitze Dolche entgegen. Nase und 
Bart verliehen dem arabischen Charakterkopfe noch mehr Schärfe und Eigenart. Mit Hülfe 
von zwei Stöcken entstieg der Mann mühsam dem Wagen und überreichte mir mit kreischendem 
Tone im höchsten Tenor unter französischen Worten seine Visitenkarte für Dr. Schindler. Auf 
dieser Karte lasen wir: „Jacques Pincherle, Offizier de l’ordre Imperial da Medjidie 
Caissier du Credit foncier Egyptien. Kairo.“ — Trotzdem der greise Dr. Schindler von 
den vielen Anstrengungen der Hochsaison selbst unwohl und auch keine Sprechstunde war, 
so wurde der Fremde doch vorgelassen. 
Niemand von uns, auch unser lieber Max Heinzel nicht, konnte den sonderbaren Dialekt 
genügend verstehen; bis endlich ein Vollblutfranzose herzugerufen wurde. Es stellte sich nun 
heraus, daß Herr Pincherle seit 6 Jahren an heftiger Diarrhöe (im Tage bis 20 Stuhlgänge) 
litt, arg abgemagert war und die verschiedensten medizinischen Kuren vergeblich durchgemacht 
hatte. Er erzählte sodann: daß er eigentlich ein geborener Italiener sei, auch etwas 
englisch vorstehe, sonst aber 7 orientalische Sprachen rede, nur kein deutsch verstehe, trotzdem 
seine Frau eine Deutsche, Strnßburgerin, sei. Wie er auf Gräfenberg gekommen, darüber 
äußerte er sich folgendermaßen: er habe ein großes italienisches Werk über Prießnitz und die 
Wasserkur gelesen (das Expl. hatte er bei sich) und sich 6 Monate durch Leib umschlüge selbst 
behandelt, wovon es etwas besser geworden sei. Da habe er sich denn aufgemacht, um 
Gräfenberg, diesen Wunderort, selbst zu besuchen. In 9 Tagen sei er rastlos unter unsäglichen 
Schmerzen von Kairo bis hierher gefahren und habe unterwegs gehört, daß Prießnitz nicht 
mehr lebe und Dr. Schindler sein Nachfolger sei . . ° Niemand hat einen Begriff, mit 
welcher Verehrung der Mann von Prießnitz sprach. Prießnitz war für ihn ein zweiter 
Heiland, und als er von Dr. Schindler hörte, daß dieser Prießnitz gekannt: da küßte er 
ihm wiederholt 'inbrünstiglich die Hände. Mir standen die Augen voll Wasser bei solcher 
Begeisterung. Wir armen, blasierten Menschen! Von Zimmern war nur noch der große 
Salon, in welchem etliche Tage später (wie früher Max von Bayern, Friedrich Franz von 
Mecklenburg, Adolf von Nassau re.) König Carol I. von Rumänien seine Wohnung nahm, 
unbesetzt. In diesen wurde er geleitet. Trotzdem es in den Hundstagen war, fror der arme 
Kerl (Gott verzeih mir die Sünde!) wie ein junger Hund! Nun bot sich uns ein seltsames 
Schauspiel dar. Der Mann litt die furchtbarsten Schmerzen, ließ sich auf einen Stuhl nieder, 
der Badediener kam, um ihn zu entkleiden, damit er zu Bett gebracht werde. Nock und 
Weste waren leicht entfernt, ebenso die 6 Wollhemden — schwer aber ging es von statten mit 
den 7 Paar Unterhosen. „Coup! coup!“ schrie er immer dem Badediener zu, und so schnitt 
ihm dieser die Beinfutterale ohne Weiteres herunter. Die Binden, welche er in Wien zuletzt 
gewechselt, wurden auch herunter-„gecoupt." Nun wunderte es mich nicht mehr, daß er vorhin 
wahre Elefantenstollen in den großen Filzschuhen stecken hatte. Die ungemein schmerzhaften 
Beine waren außerdem noch wassersüchtig aufgeschwollen. Geradezu entsetzlich war . der 
Anblick des ganzen Unterleibes. Ein roter, blauer, eiternder Schorf — alttestamentlicher 
Aussatz! Nicht ein Fleckchen gesunde Haut! Der Kranke' schrieb dies zumeist dem kalkhaltigen, 
ätzenden Nilwasser zu, in welches er seine Leibbinden eingetaucht. Nachdem derselbe die 
Leibwäsche gewechselt, wurde er zu Bett gebracht, ein Berg von Kleidungsstücken noch aus 
ihn geworfen und Feuer angeschürt, weil er vor Kälte fast „zerbrechen" wollte. 
Nachdem er sich etwas erwärmt und erholt hatte, bekam er eine Abwaschung des 
Körpers (25° R) und vorsichtigste Schwammabtumpfung und Anspritzung des kranken 
Unterleibes. Leib- und Beinbinden beschlossen die erste Kur. Da atmete er auf, aß 
Schleimsuppe und etwas Braten, erzählte mit wilden Gesten viel, wovon wir nur immer das 
„Hundertste" verstanden und steckte seine — Cigarrette in Brand, daß uns vor Rauch fast
	        
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