Volltext: Der Naturarzt 1889 (1889)

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Physisch und moralisch die bedenklichsten Folgen mit sich führt. Trotz aller 
Sorgfalt, aller Liebe will keine rechte Lebenslust in unsern Kindern gedeihen, 
-und doch giebt es für zärtliche Eltern keine größere Freude, als der Frohsinn 
derselben, und mit allen Mitteln ist man bestrebt, ihn zu wecken. Leider mit 
unrichtigen. Anstatt zu forschen, woher dieser unnatürliche Zustand kommt 
und zu erkennen, daß man durch unsere Erztehungsweise der Lust alle Quellen 
verstopft hat, indem man den eingeborenen Kräften nicht erlaubt, sich frei zu 
bethätigen, geht man aus von dem, was uns Erwachsenen ein Vergnügen 
bietet. Musik, Theater, Cirkus, Maskenzüge, Verloosungen, ja Kinderkaffees 
und Kinderbälle sogar müssen herhalten, der kostbaren Bilderbücher und kunst 
vollen Spielsachen nickt zu gedenken. Das reizt alles die Kleinen nur so 
lange, als es neu ist, weil es die Wißbegierde des Kindes befriedigt. Ist 
dieser Drang gestillt, so schleicht die Langeweile wieder heran. Und die Lange 
weile ist das Übel, an dem die civilisierte Menschheit heute franst; sie führt 
zum Lebensüberdruß, zum Pessimismus, zum Selbstmord sogar. Indem wir 
olle Genüsse, die uns das Leben spenden kann, vorwegnehmen und unseren 
Kleinen schon bieten, berauben wir ihre Jugend und machen sie arm, bettel 
arm an Freuden. Da alle diese Genüsie die Sinne reizen, das Gemüt 
erregen, den Geist anspannen, den Körper aber fast unthätig lassen, da ferner 
dieselben weit in den Abend hineingeschoben sind, also den Schlaf der Kinder 
verkürzen, da schließlich denselben Kaffee, Bier, Wein und gewürzte Speisen 
dabei geboten werden, so wird das Nervensystem außerordentlich angegriffen. 
Dieser krankhafte Zustand zeigt sich in abwechselnd starker Erregtheit und 
Schlaffheit, durch denselben verlieren die Nerven jene Spannkraft, welche dem 
Charakter Ausdauer und Beharrlichkeit giebt. Biele Fehler werden mit strengen 
moralischen Strafen geahndet, die auf physischem Wege sicherer und besser 
gehoben würden. Überhaupt sollten wir uns bei der Erziehung öfter der 
engen Wechselbeziehung des physischen und moralischen Gebietes erinnern, nicht 
die Trägheit und-Gleichgiltigkeit strafen, sondern die Blutarmut und organische 
Schwäche als ihre Ursache erst heben, nicht mit strengen Zuchtmitteln gegen 
Reizbarkeit und Zerfahrenheit eifern, sondern auf regelmäßigen Schlaf und 
-mäßige, einfache Kost halten. 
Was das Vergnügen der Kleinen anlangt, so bedarf es eines Nichts, 
um sie zu erheitern. Ein Stück Holz, ein Kissen, eine Fußbank sind Puppe, 
Pferd, Schiff, wer weiß was alles, und wird den schönsten Spielsachen vorge 
zogen, denn die Einbildungskraft ist rastlos thätig. Anstrengung der Geistes 
und Leibeskräfte ist für die Jugend höchste Lust. Wir sollten darum garnichts 
dazu thun, nur alles frei geschehen lassen, soweit dies ohne Schaden geschehen 
kann, und der Herzenswunsch der Eltern, frohe, heitere Gesichter bei ihren 
Lieblingen zu sehen, geht ohne ihr Zuthun in Erfüllung. 
Ich weiß, daß ich mit obigen Ausführungen die Herzensmeinung vieler 
tausende von gewissenhaften Müttern und vorurteilsfreien Vätern aussprach. 
Sollten dieselben zugleich die Anregung geben, mutig den Irrtum zu 
bekämpfen trotz der allmächtigen Mode, durch Einfachheit der Sitte und 
Erziehung ein glänzendes Betspiel inneren Reichtums zu bieten, dann haben 
diese Zeilen ihren Zweck erfüllt. Dann dürfen auch wir uns rühmen, wie die 
alten Griechen, unserer Jugend eine klassische Erziehung zu bieten, wo Leib 
und Geist in schönster Harmonie entwickelt, sich in herrlichen Werken bethätigen. 
So allein werden wir das mächtige Volk bleiben, zu welchem uns politische 
Größe erhob. Die Geschichte lehrt uns, daß es einer Nation schwerer wird, 
sich auf dem Gipfel ihrer Macht zu erhalten, als sich auf denselben emporzu 
schwingen, weil mit dem Glanze gar leicht die Einfachheit schwindet. Sorgen
	        
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