Volltext: Der Naturarzt 1889 (1889)

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geführte, weil eins der wesentlichsten Momente fehlt, welches den Kurerfolg zu 
sichern im stände ist, das Herausreißen nämlich aus der gewohnten 
Lebensordnung, aus den Widrigkeiten des Berufs, des Geschäfs, aus den 
Sorgen der Familie. Wer ins Bad reist, ist gezwungen, für einige Zeit sein 
Haus zu bestellen und die Sorgen auf Anderer Schultern zu legen. Schon 
die Reise lenkt seine Aufmerksamkeit vom Alltäglichen ab; der Badeort liegt 
in schöner Umgebung; die Kurordnung, die Langeweile, das Bedürfnis, für 
sein Geld auch etwas zu haben, veranlassen ihn, sich viel im Freien zu ergehen; 
sein Interesse wird in Anspruch genommen von der Schönheit der Natur; er 
lernt wieder wie in seiner Kindheit sich freuen an dem Regen und Bewegen 
in der freien Götteswelt; er empfindet die „Lust, vom Berg zu schauen weit 
über Wald und Strom, hoch über sich den blauen, tiefklaren Himmelsdom." 
Das alles beruhigt sein Gemüt, verscheucht die trüben Gedanken, pflanzt jene 
Hoffnung in sein Herz, die in den Versen Uhlands ausklingt: „Nun armes 
Herz, vergiß der Qual, nun muß sich alles, alles wenden!" Dadurch aber wird 
ein Heilfaktor geschaffen, dessen Wirkung nicht hoch genug anzuschlagen ist. 
Selbst Derjenige, welcher zu Hause dem lieben Gott die Zeit stahl, welcher 
vor lauter Langeweile nicht Zeit fand, etwas Ordentliches zu thun und vor 
lauter Nichtsthun verdrießlich und grämlich wurde, legt im Badeort des Abends 
seine müden Glieder mit dem süßen Bewußtsein zur Ruhe, seine Pflicht im 
Nichtsthun voll erfüllt zu haben. — Sodann hat jeder „Brunnen" eine Eigen 
schaft, welche bei „gemeinem" Wasser rätselhaft erscheinen würde, die nämlich, 
bei Bewegung verdaut werden zu müssen. Nach jedem „Glase" muß ein 
Spaziergang von 15—20 Minuten gemacht werden. Das ergiebt schon am 
frühen Morgen ein Arbeitspensum an Bewegung, welches oft weit über das 
jenige hinausgeht, was man zu Hause während einer ganzen Woche leistete. 
Geht's dann am Nachmittage, wenn auch anfänglich mit Ach und Krach, die 
Berge hinauf, so treibt der Kurgast eine Bewegung, welche ihn bis in die 
tiefsten Tiefen hinein aufwühlt, welche das Pumpwerk seines Herzens mit voller 
Kraft arbeiten macht, welche das Blut bis in die entferntesten Winkel seines 
Körpers treibt, damit es dort löse, ausscheide, aufbaue, welche endlich seine 
Lungen zu ergiebigster Atmung veranlaßt. „Was Wunder, daß der Dicke nach 
wenigen Tagen schon einen Teil seiner „Überfracht" verloren hat, daß der 
Magere eine Zunahme seines Körpergewichts feststellen kann, daß die vergrößerte 
Leber zu schwinden beginnt, das verfettete Herz weniger Beschwerden macht, 
daß der Darm sich auf seine Pflicht besinnt, die Schleimhäute der Atmungs 
organe sich zu regen anfangen und den eingelagerten Schmutz ausstoßen. — Während 
die meisten Menschen für gewöhnlich dem studentischen Grundsätze huldigen: 
„Mit Wasser bleibt mir ferne!" —, müssen im Badeorte täglich mehrere 
Glas „Waffer" getrunken werden. Freilich ist das kein gemeines, klares 
Wasser, sondern „Brunnen"! Ja noch mehr! Der Kurgast muß vielfach — 
etwas für ihn ganz Unerhörtes — täglich seine Haut mit Wasser in Berührung 
bringen, muß baden! Glücklicherweise geschieht auch das nicht in gemeinem 
warmem Wasser, sondern in dem der „Heilquelle", welches in geheimnisvoller 
Weise die Früchte jahrelanger Mißhandlung des Körpers wegzuspülen im 
stände ist! Endlich hat jeder Brunnen die eigentümliche Beschaffenheit, daß er 
sich nicht mit allen Speisen und Getränken verträgt. Da muß man Fettes, 
muß Saures und Gewürztes meiden, muß sich auf täglich nur ein Glas Bier, 
auf eines „Pfiff" Rotwein, auf zwei Cigarren beschränken, und findet. — daß 
der „Brunnen" vorzüglich wirkt! Auf die Kur im Badeorte hat stets 
noch eine „Nachkur" an einem anderen günstig gelegenen Platze oder zu 
Hause zu folgen. Diese „Nachkur" soll den erwarteten Erfolg erst vollständig
	        
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