Volltext: Der Naturarzt 1887 (1887)

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gebildeten Menschen nicht denkbar ohne Arzt und Arznei. Sie erinnern sich 
aus ihrer frühesten Kindheit, daß bei jedem Unwohlsein in der Familie der Arzt 
zu Rathe gezogen wurde, der auch meist durch ein Rezept die Gemüther zu be 
ruhigen wußte. Selbst in hoffnungslosen Zuständen wurde er noch herbeigerufen, 
damit man sich wenigstens „keine Vorwürfe zu machen hätte". Und nun sollten 
sie mit einmal ohne den approbirten Heilkünstler auskommen können? Sie sollten 
vielleicht ein theures Leben einem Manne vertrauen, der nicht eininal den Titel 
„Herr Doktor" führt, geschweige denn „Herr Professor", oder „Herr Medizinalrath"? 
Würden sie sich bei einem unglücklichen Ausgange nicht selbst der schweren Pflicht 
verletzung anklagen? Und wenn man auch mit dem eigenen Gewissen noch fertig 
würde, was würden aber „die Leute" dazu sagen? Wäre es nicht eine Verletzung 
des guten Tones, wenn ein vornehmer Mann in bedenklichen Fällen nicht mindestens 
einen Professor mit seinem Assistenzarzt an das Krankenbett cittrt? Würden nicht 
seine Standesgenossen die Rase rümpfen, und ihn wohl gar als einen 
Sonderling ansehen, wenn er sich mit einem einfachen Ratnrarzt be 
gnügen wollte? Ich weiß wohl, daß es eine Reihe von Ausnahmen 
giebt, aber ich rede hier nur von den allgemeinen Zuständen. Die 
Mode ist eine gestrenge Herrin, und Mancher beugt sich unter ihrer Herr 
schaft, der sie im innersten Herzen verachtet. Heutzutage ist es aber auch 
durchaus noch Modesache am Krankenbette einen Mann zu haben, der 
lateinische Rezepte verschreibt, und womöglich von dem Nimbus einer 
höheren Titulatur umgeben ist. 
Wir können, wie gesagt, diesen Standpunkt verstehen, und bis zu einem ge 
wissen Grade entschuldigen, wie wir denn auch ehemals selber auf ihm standen» 
aber daß die Inhaber desselben hierdurch einen besonders hohen Grad von Weis 
heit dokumentirten, möchten wir nicht behaupten. Die Medizinheilkunde, auf ihre 
Leistungen hin verglichen mit der Raturheilkunde, möchte so ungefähr einem alten, 
verrosteten Schwert gleich sein, verglichen mit einer kostbaren Damastener« 
klinge. Wenn daher Jemand bei leichten Unpäßlichkeiten sich etwa zu einem 
Pcießnitz-Umschlag aufschwingt und so ein wenig spielt mit der Wasserkur, dagegen 
in schweren Fallen zur Arzneiflasche flüchtet, der ist wie ein Krieger, der in ,frie- 
denszeiten seine Waffenübungen mit echter guter Klinge vornehmen, dagegen 
bei dem Kampf auf Leben und Tod zu dem alten verrosteten Schwert greifen 
wollte, um sein Heil damit zu versuchen. Die Thatsachen sprechen dnrchaus 
für das Zutreffende dieses Vergleichs. Denken wir nur an das klägliche Fiasko, 
das die Medizinheilkunde fort und fort in der Äehandtung der Diphthrritis 
macht. Tausende von Eltern tragen kein Bedenken, ihren Kindern bei auftretenden 
Halsschmerzen einen nassen Umschlag zu machen, und schlagen so wenigstens die 
rechte Richtung ein, wenn auch von einer bloß lokalen Behandlung hier nur sehr 
wenig zu erwarten ist; sobald aber die Krankheit, wie es bei so ungenügenden 
Maßnahmen nicht auffällig ist, heftiger wird, verläßt man sofort den einge 
schlagenen Weg und schickt instinktmäßig zum Medizinarzt, obgleich man es täglich 
vor Augen sehen und in allen Blicken lesen kann, daß die medizinische Behandlung 
hier so gut wie garnicht:, ausrichtet.
	        
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