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Die Wollkleidung als Gesundheitsschutz.
Von Dr. uieä. A ß m a n n. (Schluß.)
Ob nun auf dem direkten Wege der Stauung, oder auf dem Umwege der reflektorischen Nerven
wirkung in solchen Organen, welche durch vorhergegangene häufige Attraktionen ihrer normalen
Beschaffenheit in einem chronischen Reizzustande, wenn auch scheinbar schlummernd, sich befinden,
Erscheinungen der Blutüberfüllung, Schwellung durch Austritt von Blutwasser in die Gewebe,
Auswanderung von weißen Blutkörperchen aus den Kapillaren, kurzum Entzündungen in ihren
verschiedenen Modifikationen entstehen, das ist für jetzt ein noch ungelöstes Rätsel.
Doch liegt das außer allem Zweifel, daß mit der Energie des Reizes auch die Gefahr wächst,
so daß der Bekleidungsstoff, welcher die schnellste und stärkste „Verdunstungskälte" auf die Haut
wirken läßt, wie Leinen, auch zweifellos die meiste Gefahr mit sich bringt. Weshalb sind
wir denn gewöhnt, nach Erhitzung des Körpers und energischer Schweißbildung auf demselben
uns ängstlich vor „Zug" zu schützen, indem wir den Rock zuknöpfen oder den Überzieher an
ziehen? „Zug" ist bewegte Luft und bewegte Luft führt den durch Verdunstung von der
Körperoberfläche an die angrenzende Luftschicht abgegebenen Wasserdampf schnell fort, dadurch
wieder neue trocknere Luftmengen an die Haut heranbringend. Wie die Wäsche unserer Haus
frauen bei windigem Weiter schneller trocknet, als bei ruhigem, so auch unsere Haut und die
sie umgebenden durchfeuchteten Bekleidungsgegenstttnde. Durch Beschleunigung der Verdunstung
wird die Bindung von Wärme vermehrt, das Kältegefühl und die Kältewirkung für unsere
Haut und deren Nerven-Endigungen erhöht und die Gefahr der „Erkältung" vergrößert.
Wir schließen den Rock, nicht um uns vor der an sich vielleicht sehr warmen Luft zu schützen,
sondern um die Verdunstung von unserer Körperoberflttche zu verlangsamen, dadurch uns aber
gewissermaßen mit einer bleibenden feuchten Luftschicht zu umgeben, welche nur langsam Wärme
bindet. Dasselbe erreichen wir aber durch eine Bekleidung mit Wolle: die langsame Ver
dunstung aus der Wolle läßt eine schnelle Herabsetzung der Hauttemperatur durch latente Wärme
nicht zu, so daß man in einer nassen Wollkteidung durchaus nicht die kältende Wirkung be
wegter Luft empfindet, selbst wenn man sich dem vollen „Zuge" unvorsichtig aussetzt. Die
weitere Konsequenz aus dieser Eigenschaft der Wolle ist aber, daß jemand, der in Wolle
gekleidet ist, viel weniger dichte und zahlreiche Kleider anzuziehen nötig hat, als
der in Holzfaser gekleidete. Die einfache Wollkteidung vertritt vermöge ihres geringen Wärme
leitungsvermögens und ihrer langsamen Verdunstungsfähigkeit die Stelle von mehrfachen über
einander gezogenen Bekleidungsgegenständen vollkommen. Kleidungsstücke, welche schnell und
gut Wärme leiten, wie Leinwand und Baumwolle, müssen natürlich der äußeren Lufttemperatur
in bezug auf ihre Dichte und ihre Anzahl ängstlich angepaßt werden. In einem leinenen
Turnanzuge würde man schwerlich im Sommer bei 30" Wärme und im Winter bei 20 0 Kälte
sich gleich behaglich fühlen; daß man im Sommer in solchem sich wohl fühlt, liegt daran,
daß unsere Körpertemperatur, welche gegen 37 ^ C. beträgt, meist noch etwas höher ist, als
die höchsten Schattentemperaturen der Luft; die Wärmeleitung ist daher fast immer eine nur
geringe. Wollkleidung dagegen verringert für den mit ihr bekleideten Körper die
Leitungsvorgänge der Wärme überhaupt in hohem Maße, daher ist es ein nur auf gröbster
Unkenntnis beruhender Vorwurf, wenn man der Wollkleidung nachsagt, sie verweich
liche den Körper; sie konservirt nur in erhöhtem Maße die dem Körper zu seinem Wohl
befinden zuträglichste Blutwärme, indem sie ihn vor starker Vermehrung von außen
im Sommer und vollen Sonnenschein, vor starkem Verluste durch energische Aus
dünstung und Wärmebindung, eben so durch die niederen Lufttemperaturen des Winters bewahrt.
Ein mit Wolle Bekleideter wird daher unter allen Umständen leichter gekleidet gehen
können, als ein mit Holzfaser Bekleideter und wird für seinen Körper denselben Wärmeeffekt
haben; wesentlich befördert wird dieser Effekt durch die der Theorie vollkonnnen entsprechende
Vorschrift, die Wollkleidung überall geschlossen, den Rock stets, auch
im Sommer, zugeknöpft zu tragen.
Eine weitere gesundheitsbefördernde Eigenschaft der Wolle ist ihre Rauheit. Durch die
selbe wird auf der Haut eine gelinde, nur in den ersten Tagen unangenehm fühlbare Reibung
erzeugt, welche ihrerseits wieder eine geringe Erweiterung der Haut-Kapillargefäße und danach
stärkere Durchblutung der Haut selb st zur Folge hat. Die stärkere Blutfüllung
der Haut kann dem mit Wolle Bekleideten niemals gefährlich werden, wie es nach dem
oben Erörterten erscheinen möchte, da eben die Wolle als schlechter Wärmeleiter jede ener
gisch e A b k ü h l u n g zurückhält. Wohl aber ist sie von großem gesundheitlichen Werte,
indem durch dieselbe vermöge des großen Gesamtinhaltes aller Haut-Blutgefäße eine sehr be
trächtliche Menge Blut den inneren Organen entzogen wird. Hierdurch wird aber
dem Herzen zweifellos die Arbeit erleichtert, Stauungen in inneren Organen werden ver
mieden, eine durch Körperanstrengungen oder sonstige Ursachen bewirkte plötzliche Steigerung
des Blutdrucks wird ein breites und weites Strombett zum Abfluß und zur Ausgleichung in