Volltext: Der Naturarzt 1885 (1885)

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ausübt, falls wir mit den drei verschiedenen Materialien bekleidet sein würden. Leinwand läßt 
die Wirkung der äußeren Wärme, der Sonnenstrahlung, in trockenem Zustande sehr wenig ge-- 
hindert unseren Körper treffen, läßt aber eben so, wenn die äußere Temperatur niedriger ist 
als unsere Körperwärme, unseren Körper selbst an Wärme durch sie hindurch energisch verlieren, 
in geringerem Maße wird dies die Baumwolle erlauben, im geringsten jedoch unter allen Um 
ständen die Wolle. Die Wolle hält eben so zur Zeit der äußeren höheren Wärme dieselbe 
vom Körper ab, wie sie bei niederer Temperatur die tierische Körperwärme konservirt. Hierin 
liegt eben das ganze und wichtigste Geheimnis des Wertes der Wollkleidung, daß dieselbe im 
Sommer vor der Wärme s ch ü tz t, im Winter aber die Körperwärme z u r ü ck h ä l t. Leinwand da 
gegen läßt im trockenen Zustande im Sommer die Sonnenwttrme, im Winter die Körperwärme 
durchpassiren. _ Daß aber ein Bekleidungsmaterial, welches im Sommer „kühlt", im Winter 
„wärmt", g e s u n d h e i t s g e m ä ß e r ist, als ein solches, welches im Sommer „wärmt" und 
im Winter „kühlt", liegt ohne weiteres auf der Hand. Die Baumwolle steht zwischen 
beiden, doch der Leinwand erheblich näher als der Wolle. — Bei der Beurteilung des Bekleidungs- 
wertes eines Stoffes kommt jedoch noch ein anderes Moment in erheblicher Weise ttt 
Betracht, das ist das Verhalten des Stoffes gegenüber dem aus der Haut unaufhörlich in Gestalt 
von Schweiß austretenden Wassers. Auch hier kann das Experiment uns wieder helfen. Mar: 
tauche die eben gebrauchten drei Stücke Leinwand, Baumwolle und Wolle in Wasser, ziehe 
dieselben, ohne sie auszudrücken, heraus, hänge sie an einer Ecke in einem geschlossenen Zimmer 
auf und lasse sie trocknen; zuerst wird die Leinwand, dann die Baumwolle, zuletzt die Wolle 
trocken sein, hängt man die trocknenden Stoffe an empfindliche Wagen, so kann man den 
gleichzeitigen Wasserverlust in Zahlen ausdrücken, wiederholt man jedoch das Experiment in 
der Weise, daß man einen Teil der Stoffe je um die Kugel eines empfindlichen Thermo 
meters wickelt und oiese nun unter gleichen äußeren Verdunstungsverhältnissen aufhängt, so 
wird man gewahren, daß das mit Leinwand umwickelte Thermometer schnell, das mit Baum 
wolle umwickelte etwas, das mit Wolle umwickelte jedoch erheblich langsamer fallt. Diese 
Erscheiuung erklärt sich daraus, daß bei der Verdunstung des Wassers aus den Umhüllungen 
eine gewisse Wärmemenge gebunden (latent) wird und daß um so mehr Wärme gebunden wird, 
je schneller die Verdunstung von statten geht: schnell bei dem Leinen, längs am bei der 
Wolle. Diese gebundene Wärme wird aber den anliegenden Gegenständen, also der Lust 
und der Thermometerkugel, dem Quecksilber, entzogen, daher dasselbe proportional der 
Schnelligkeit der Verdunstung sinken muß. Wie stellen'sich nun diese Verhältnisse für die zur 
Bekleidung verwandten Stoffe? Die Bekleidung kann auf zwei verschiedene Weisen in den 
Zustand der Durchnässung geführt werden: von außen durch direkte Einwirkung von 
Wasser in Gestalt von Regen oder zufälliger Durchtränkung, oder von innen durch Schweiß 
produktion des Körpers selbst. Der Effekt beider Durchnässungen des Stoffes ist für die 
Verdunstungsverhttltnisse des Wassers derselbe: nach dem Experimente wird aus Leinen das 
Wasser schnell, aus Baumwolle langsamer, aus Wolle sehr langsam verdunsten; 
demnach wird der umliegenden Lust und der menschlichen Haut, welche in diesem Falle die 
Stelle der Thermometerkugel in: Experiment vertritt, bei Leinen sehr viel, vei Baumwolle 
weniger, bei Wolle sehr wenig Wärme in demselben Zeitraum entzogen werden. Diese unter 
dem Namen der „Verdun st u n g s k ä l t e" bekannte Erscheinung ist uns nun aber ganz vor 
nehmlich von Leinen sattsam bekannt: nasse Leinwand kältet die Haut ganz beträchtlich ab, 
d. h. in demselben Maße vermehrt sie auch die Gefahr der Erkältung. Für 
die Einwirkung der niederen Temperatur auf die Haut ist es nämlich von erheblichem Ein 
flüsse, in welchem Zustande dieselbe sich befindet; ein in Ruhe befindlicher Körper produzirt 
wenig oder keinen tropfbar flüssigen Schweiß, obwohl der fortwährende Wasserverlust des 
selben auf dem Wege der Verdunstung ein sehr bedeutender ist. Die feinen Kapillar-Gefäße 
der äußeren Haut befinden sich hierbei in einem Zustande der Ruhe. des Gleichgewichts und 
der mittleren Ausdehnung. Ein sie so treffender thermischer Reiz, eine energische Abkühlung, 
wie sie bei Durchnässungen, bei der leicht durchflüssigen Leinwand schnell, bei Baumwolle 
weniger schnell, bei Wolle am langsamsten stattfindet, bewirkt eine um so schneller erfolgende 
Zusammenziehung der Kapillaren der getroffenen Stelle, je größer die Temperaturdifferenz 
selbst ist. Die nächste ankommende Blutwelle findet also einen Teil ihres Stromgebietes 
verengt und staut sich demgemäß vor demselben, die entfernter liegenden, besonders die inneren, 
der Abkühlung nicht ausgesetzten Organe mit Blut überfüllend, deren Kapillaren kompensatorisch 
erweiternd, um der Blutwelle Abfluß zu verschaffen. Es entsteht hierdurch das, was der 
Pathologe eine Stauungs-Hyperämie nennt. Ist nun aber im anderen Falle die 
Haut, durch starke Muskelaktion oder sonst wie veranlaßt, im Zustande einer bedeutenden Blut- 
fülle, die Kapillaren erweitert, die Endigungen der Hautnerven selbst durch die Blutsülle ihrer 
Kapillarschlingen in einem Erregungszustande, die Gewebszwischenräume mit ausgetretenem Wasser 
gefüllt, die Haut selbst mit tropfbar flüssigem Schweiße bedeckt, dann wird eine energische 
Bindung von Wärme durch schnelle Verdunstung einen ungleich mächtigeren Effekt geben, als 
im ersteren Falle. Der Reiz für die blutstrotzenden Kapillaren, für die Hautnerven, wird
	        
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