Volltext: Der Naturarzt 1882 (1882)

Die Jufektionslheorie nnd Rontagienlehre. 
Von Adolf Graf Zcdtwilz. 
(Schluß.) 
Prof. O e ft e r l e n erwähnt in feinem Bliche, „Die Seuchen", ein Experi 
ment Dr. O. B y a n s in Lyon, der mehre Kinder durch eine Woche jeden 
Morgen um einen kleinen Tisch sitzen ließ, in dessen Mitte stark mit Blattern 
eiter geschwängerte Kompressen von Leinwand und Seide lagen, ohne daß 
irgend eines dieser Kinder erkrankte. 
Und wenn wir schließlich unsern Gegnern das Zugeständnis machten, daß 
Kontagien existircn, die ausnahmsweise, das heißt von hundert Personen drei 
oder vier dafür „Disponirte" infizircn, wozu dann der ungeheure Apparat 
zur Verhütung von Ansteckung: Quarantäne, Spitalsgefängnisse, kostspielige 
Desinfektion, Militärkordons, Impfung re-, wenn die ungeheure Mehrzahl der 
Bevölkerung erfahrungsmäßig überhaupt nicht für Kontagien empfänglich, die 
Gefahr also eine verschwindend kleine ist? 
Es bleibt ferner bei der Kontagienlehre noch ein dunkler Punkt. Entweder 
muß jede infektiöse Krankheit doch einmal von selbst entstanden sein, dann kann 
sie auch in jedem einzelnen Fall unter gewissen Bedingungen von selbst ent 
stehen, oder man muß, wie Prof. Tyndal und Konsorten, zu der absurden 
Ausrede greifen, die Kontagien stammen von Anfang der Schöpfung her, ver 
schwinden zeitweilig und leben wieder auf, wie man es eben braucht. 
Richtig ist allerdings, was Oesterlen sagt, daß es sehr schwierig ist, 
das Erscheinen und Verschwinden von Epidemien immer genügend zu erklären, 
aber von allen Theorien ist die der Kontagien die allerunglücklichste und wider 
sinnigste. Von Laien ist es allerdings verzeihlich, wenn sie nur nach dem 
Schein urteilen und bei plötzlicher Erkrankung mehrer Familienmitglieder 
auf Ansteckung schließen, obwohl bei unbefangener Beobachtung solchen Einzel 
fällen wieder ebensoviel andere entgegenstehen, die das Gegenteil beweisen. 
So wissen wir Beispiele, daß Säuglinge an der Brust blatternkranker Mütter, 
ungeimpfte Kinder, die ihre blatternkranken Verwandten pflegten, gesund blieben. 
Die Nichtansteckung läßt sich eben in zahllosen Fällen wirklich beweisen, die 
Ansteckung aber in keinem einzigen Fall, weil die Möglichkeit der spontanen 
Erkrankung nie ausgeschlossen bleibt. 
Übrigens wissen wir bei vielen lokalen Epidemien die Ursachen ziemlich 
bestimmt. So gab es in der Schweiz durch Genuß kranken Fleisches in 
Clothen bei einem Sängerfest eine Typhusepidemie von mehren hundert Per 
sonen. Ebenso wissen wir, daß infolge Mißernte und Hungersnot, ferner bei 
kriegführenden Armeen jederzeit Epidemien eintreten, da bedarf es zur Er 
klärung kein Kopfzerbrechen, am allerwenigsten aber Kontagien. Schwieriger 
ist die Erklärung, wenn, wie bei der Blatternepidemie 1869 — 74, ganze 
Länder der Reihe nach oder gleichzeitig heimgesucht werden, aber 
lächerlich wäre es, hier Kontagien eine Rolle zuzuweisen, eher dürf-. 
ten tellurische Einflüsse neben andern Faktoren in Rechnung kommen. 
Denken wir uns, es befände sich Jemand, der nie von der Seekrankheit ge 
hört, auf einem Schiffe und er sähe plötzlich um sich herum Einen nach dem 
Andern von den Mitreisenden heftig erkranken, müßte er nicht wähnen, es sei 
eine Epidemie ansgebrochen und wenn er an Kontagien glaubt, Einer habe 
den Andern angesteckt? Doch Niemandem fällt es ein, solches zu glauben, 
denn wir kennen eben die Ursache, das Schwanken des Schiffes, das auf jeden 
Einzelnen, der eben dafür disponirt ist, ungünstig einwirkt. Indes ist es nicht 
unmög lich, daß es unsern Mikroskopiern eines Tages gelingt, einen anstecken-
	        
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