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man bezeichne insonderheit Norderney schon als einen neuen „klimatischen
Heilort für Schwindsüchtige". Dieser Auffassung müsse er als einer
irrigen so nachdrücklich als möglich entgegentreten; der Aufenthalt an der
Nordseeküste habe sich von jeher als am wirksamsten bei den verschiedensten Arten
von Schwächezuständen erwiesen und daß solche Zustände häufig den Be
ginn einer schwindsüchtigen Erkrankung und den Ausbruch dieses
Leidens selbst begleiten, sei allgemein bekannt! Darum sollten die Nordseeinseln
nur als klimatische Heilorte für S ch w ä ch e z u st ä n d e bezeichnet werden.
Zwei Erfahrungen sprechen dafür, Kranke auf einer Nordseeinset überwin
tern zu lassen, nämlich die eine, daß die Meeresluft unter den Heilfaktoren
die erste und das Bad in offener See erst die zweite Stelle einnehme, die
andere, daß eine niedrige Lufttemperatur den an constitutionellen Schwäche-
Zuständen Leidenden und insonderheit manchen Phthisikern nicht nur
nicht schade, sondern stets von großem Nutzen sein könne!
Zu einem Spätherbst- und Winteraufenthalt sind im Halbjahr 1880/81 53
Kranke eingetroffen; ihre Lebensweise war der Art, daß morgens vor dem
Frühstück ein kurzer Spaziergang gemacht, während der Monate November,
Dezember und Januar um 12 Uhr ein Gabelfrühstück und um 6 Uhr das
Mittagessen (einfache gemischte Kost, wobei frische Vegetabilien nie fehlen), ge
nommen und die Zeit von 10—12 und 2—4 Uhr zum Verweilen im Freien
benutzt wurde. Regelmäßig fand während des ganzen Winters abends zwischen
8—10 Uhr noch ein kurzer Spaziergang statt und zu dieser Tageszeit war an
der Mehrzahl der Tage die Luft von einer so erfrischenden Einwirkung, von
einer so weichen, milden Beschaffenheit, daß sämtliche Kranke mit größtem Wohl
behagen darin verweilten. Es erhellt hieraus, daß ich auf einen möglichst aus
gedehnten Aufenthalt im Freien den größten Wert gelegt habe! Der Aufenthalt
im geschlossenen Krankenzimmer wird von den Patienten bald als ein Nachteil
empfunden und die ständige Lüftung der Wohnzimmer zum Bedürfniß. — Im
Hinblick auf die zahlreichen Phthisiker, welche den Winter in Norderney zubrachten,
muß ich hervorheben , daß ich das Ü b e r f ü t t e r u n g s s y st e m , wie es hie
und da in Heilanstalten (Görbersdorf) für diese Kranken im Schwünge ist, für
einen großen Fehler halte und darum meine Patienten deshalb beständig vor
dem „zu viel" zu hüten gesucht habe; vergesse man doch nicht, daß die Leistungs
fähigkeit der sämtlichen Organe dieser Kranken herabgesetzt ist und daß das
zuviel in der Einnahme unfehlbar durch Erscheinungen der Retardation
des Stoffwechsels früher oder später beantwortet wird.
Die Beherrschung der wissenschaftlichen Diätetik erfordert eine
-große Menge von Kenntnissen; die Feststellung der Diät im einzelnen Falle ge
hört zu den schwierigsten ärztlichen Aufgaben. Ehe man von der Schwierigkeit
dieser Aufgabe nicht voll durchdrungen ist, ehe die zu ihrer Überwindung erfor
derlichen Kenntnisse nicht in allen ärztlichen Kreisen verbreitet sind, werden die
ungeheuren Differenzen in den ärztlichen diätetischen Verordnungen nicht aufhören
und die Patienten mit Recht darüber klagen, daß sie von vier verschiedenen
Ärzten vier verschiedene diätetische Vorschriften erhalten haben. Voll
endetes leistet auf diesem Gebiete heutigen Tags noch Niemand! Aber
man darf erwarten, daß die Kenntniß der Zusammensetzung aller einzelnen
Nahrungsmittel und der Bedeutung ihrer sämmtlichen einzelnen Bestandteile a l s
ein Postulat für jeden Arzt betrachtet und daß über die oft überstüssigen
Rezepte das erste Fundament aller Gesundheit nicht vernachlässigt wird!
Im Kap. „Die wirksamen Faktoren der Nordseeluft"
bemerkt Verfasser, daß das wesentlich Wirksame derselben noch immer nicht