Volltext: Der Naturarzt 1879 (1879)

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„Der ganze Streit der Vegetarianer erscheint uns ziemlich müssig (1). Niemand 
wird leugnen, daß man mit guter Pflanzenkost allein besser und richtiger leben könne, 
als mit guter Fleischkost allein. Dies liegt aber nicht darin, daß im Fleische giftige 
Stoffe seien (wie z. B. daraus bewiesen wird, daß Thiere verendet sind, denen man 
Kreatinin lösung in das Blut gespritzt hat), sondern lediglich in dem Umstande: daß 
in gemischter Pflanzenkost alle diejenigen Bestandtheile enthalten, sind, deren der menschliche 
Organismus zu seinem Aufbau und zu seiner Kräftigung bedarf (2); während bei der 
F l e i s ch k o st die Zusammensetzung eine ungenügende ist, weil man eben nur einen 
Theil des Thierkörpers, nicht das ganze Thier, genießt. Würde es möglich sein, sich von 
Thieren zu nähren, indem man sie, ohne irgend etwas von ihnen zu entfernen, genösse, so 
würde auch die thierische Kost den Bedürfnissen genügen (3); die Besitzer von Menagerien 
und die Direktoren zoologischer Gärten wissen das sehr wohl, und reichen deshalb von Zeit 
zu Zeit ihren Fleischfressern anstatt der einzelnen Fleischportionen, ganze Thiere. 
Die Vegetarianer sollten doch bei ihren „physiologischen" Beweisen den einen Um 
stand berücksichtigen, daß alleWirbelthiere vor ihrer Geburt ausschließ 
lich thierische Nahrung zu sich nehmen (der Vogel im Inhalte des Eies, die 
Säugethiere aus dem Blute der Mutter), und daß die Säugethiere auch nach 
d e r G e b u r t i n d e r M i l ch d e r M u t 1 e r mit t h i e r i s ch e r K o st sich aus 
schließlich nähren (4). 
Immer bleibt bei der ganzen Bewegung das Eine bedauerlich, und wirft auf die 
Vegetarianer einen argen Makel: daß sie, statt ruhiger Betrachtungen und Erwägungen, 
leidenschaftliche Ergüsse und Begeiferung aller Andersdenkenden als Waffe gebrauchen, und 
daß sie mit dem unverfrorensten Hochmuthe sich allein für klug und ihr aus dem 
Zusammenhange herausgerissenes „Dogma" als das wissenschaftliche Evangelium preisen. 
Wenn ein Zimmermann einem Uhrmacher über Uhrmacherkunst guten Rath giebt, so wird 
man dies mit Recht als lächerlich anmaßend brandmarken. Wenn aber ein verdorbener 
Prediger, ein Schullehrer, ein Landmann mehr und Besseres wissen 
wollen als sämmtliche Aerzte und Physiologen, dann findet das ein Bruch 
theil der Bevölkerung ganz in der Ordnung, und wer nicht die Ueberzeugung jener Laien 
theilt, wird ohne Weiteres dumm, unwissend oder s ch l e ch t genannt (5)." 
Dies sind genau die Worte des medizinischen Professors, ich habe nichts 
ausgelassen und nichts hinzugefügt, als die Zahlen 1—5 an den Stellen, wo 
ich einige Glossen anknüpfen möchte. 
Also bei 1. Unter dem „ganzen Streit" ist die Frage nach der richtigen 
Ernährung des Menschen zu verstehen. An der Lösung dieser Frage arbeiten 
die Vegetarianer theoretisch und praktisch mit Einsatz von Leib und 
Leben. Sie schaffen damit eine wesentliche Bereicherung der Wissenschaft, und 
wenn sie gegen eine bis dahin herrschende Doktrin kämpfen müssen, so stehen 
sie doch darum nicht draußen. — Wenn der Vegetarianismus nicht schon 
existirte, so müßte man ihn für die Wissenschaft extra erfinden! Ich 
glaube nicht, daß ein wirklicher Physiologe diese Frage für eine müssig e erklärt! 
Bei 2. „Pflanzenkost enthält Alles, was der menschliche 
Organismus bedarf", wie selbstverständlich das jetzt schon dasteht! — 
Da haben wir ja einen redenden Beweis von dem Einfluß der vegetarianischen 
Lehren auf die Wissenschaft, denn noch vor etwa 10 oder 12 Jahren, als 
Liebig's Theorie der Ernährung unerschüttert herrschte, wäre dieser Satz 
in einer „wissenschaftlichen" Abhandlung unmöglich gewesen. 
Bei 3. Haare und Federn statt Obst und Korn! — Dieser 
Satz wird zum ersten Male der Welt verkündet, er ist wirklich neu! 
Nennen wir ihn darum den „Reclam'schen Lehrsatz" und formuliren 
ihn so: Wenn die Menschen Hühner und Gänse mit Federn, 
Füßen und Schnäbeln verzehren könnten, oder die Ochsen 
mit Haut, Haar, Knochen, Klauen und Hörnern verspeisen, 
so würde jede Pflanzennahrung entbehrlich sein! — Ich hoffe 
nicht, daß Jemand lacht und ich bitte die Herren Ludwig, Ranke, Her 
mann und andere Physiologen, bei neuen Auflagen ihrer Lehrbücher diesen 
Satz ja nicht zu übersehen!
	        
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