Volltext: Der Naturarzt 1879 (1879)

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Zeiten absehen, bis zum Jahre 1863 keine Diphtherie gehabt. Ich war vier Jahre klini 
scher Assistent beim verstorbenen Obermedicinalrath v. Pfeufer und untersuchte speciellen 
Interesses halber alle Halserkrankungen aufs sorgfältigste, ohne daß mir während dieser 
langen Zeit ein einziger auch nur suspecter Fall vorgekommen wäre, und doch war damals 
für die Gesundheitsverhältnisse der Stadt München das noch nicht geschehen, was bis jetzt 
ins Werk gesetzt wurde. Für Reinhaltung des Bodens von Fäcalmassen, für Trinkwasser, 
für Ventilation der Schulen und Wohnräume war noch wenig gesorgt worden; ich habe auf 
Veranlassung von Professor Pettenkofer die ersten umfassenden Untersuchungen über 
die Beschaffenheit der Luft in Münchener Wohnräumen, Schulen re. vorgenommen und die 
außerordentliche Schlechtigkeit derselben nachgewiesen, und doch hatten wir damals keine 
Diphtherie, kam es nicht zur Bildung eines solchen infectiösen Contagiums. Erst im Jahre 
1863 wurden hier die ersten Fälle von Diphtherie eingeschleppt, und von da an habet! 
wir dieselben fast das ganze Jahr hindurch in Spitälern und in der Privatpraxis in 
ganz bedeutender Menge. Wenn man nun noch die Vortrefflichkeit der Lage des neuen 
Palais, seiner Bauart und seiner Ventilation, die Anlage der Wasser-Closets und seine 
Canalisation in Erwägung zieht, so muß der Gedanke an die autochthone Ent - 
st e h u n g eines derartigen Jnfectionsherdes auf das entschiedenste zurückgewiesen werden. 
Aber auch eine Vermehrung und Verbreitung des eingeschleppten Contagiums purch die 
Luft in den Wohnräumen, durch das Wasser, durch die Abtritte, durch eine allfällige mangel 
hafte Canalisation und die secundäre Entstehung eines Jnfectionsherdes, wie es so häufig 
vorkommt, muß speciell für diese Erkrankungen eben so bestimmt negirt werden. Prinzessin 
Victoria wurde entweder von einer mit ihr in Verkehr stehenden Person inficirt, und diese 
Annahme scheint nirf)t ganz unbegründet zu sein, oder hat die Krankheit in der Stadt 
aquirirt, in welcher die Diphtherie allenthalben verbreitet ist. Es kommen hier namentlich 
diese leichten Formen in Betracht, welche ich als katarrhalische beschrieben habe: die 
Kranken können m i t denselben wie mit einem ambulanten Typhus herumgehen ohne beson 
dere örtliche oder allgemeine Störungen, die Affection kann von selbst und 
ohne weitere Eingriffe des Arztes abheilen, nichts destoweniger aber sind sie im Stande, 
da wo eine geeignete Disposition dafür vorhanden ist, den Keim für die Ent 
wicklung der schlimmsten Formen abzugeben. Ich habe diese Thatsache seit 15 Jahren, in 
welchen ich diese Krankheit studire, wiederholt beobachtet und möchte dringend darauf auf 
merksam gemacht haben. Nun ist nachgewiesen , daß die sechs z u e r st Erkrankten, 
wie es in Familien vorkommt, kurz bevor bei Prinzessin Victoria die Diphtherie constatirt 
wurde, sich gegenseitig geküßt und dadurch nothwendigerweise (?) sich mit dem Conta- 
gium inficirt haben. Die Kranken wurden zwar, sobald die Diphtherie erkannt war, sofort 
streng isolirt und alle möglichen Vorsichtsmaßregeln angeordnet, um eine weitere Ver 
breitung der Krankheit zu verhindern, allein die Jnfection hatte bereits stattgefunden und 
nach einem 5Va — Btägigen Jncubationsstadium erkrankten der Reihe nach die fünf anderen, 
je nach der Individualität und Receptivität ihres Organismus für das diphtherische Con- 
tagium. Nun ist es im höchsten Grade merk w ü r d i g und vor allem hervorzuheben, daß, 
nachdem einmal die nothwendigen Vorsichtsmaßregeln getroffen, gründliche Desinfection aller 
mit den Kranken in Berührung kommenden Gegenstände vorgenommen, v.o.n etwa 60 
Menschen, welche im Palais wohnten und verkehrten, und zum Theil, wie das Warte 
personal, mit den Kranken in unmittelbare Berührung kamen, niemand mehr erkrankte. 
Wäre der Ansteckungsstoff in irgend welcher Weise in dem Gebäude selbst verbreitet und 
dort irgendwie acquirirbar gewesen, wären die Luft, das Wasser, die Wohnräume damit 
imprägnirt worden, hätte eine mangelhafte Canalisation, auf die man zu leicht immer 
wieder zurückkommt, die Ursache einer Vermehrung und Verbreitung des eingeschleppten 
Contagiums abgegeben, so müßte, wie das bei den von Typhus und Cholera inficirten 
Häusern der Fall ist, die Verbreitung der Krankheit eine ganz andere gewesen sein, und 
unbekümmert um die Familie und ihren gegenseitigen Verkehr hätte sie unter Hoch und 
Niedrig, hier und dort im Haus ihre Opfer sich herausgeholt. Die großherzogliche Familie 
nahm die besten Zimmer im Schlosse ein, ihre Wohnräume breiteten sich in beiden Stock 
werken nach Ost und West auf dem nördlichen und südlichen Flügel aus, rings umgeben 
von den Wohn- und Scklafräumen der zahlreichen Hofhaltung; im Parterre und im Sou 
terrain, sowie in den oberen Stockwerken, wohnte und verkehrte die Dienerschaft, und den 
noch ist von allen diesen Menschen, die theils unter denselben Verhältnissen wie die groß 
herzogliche Familie wohnten, theils relativ minder günstige Wohnräume einnahmen, nie 
mand von der Krankheit ergriffen worden. Das Ereigniß ist vollkommen undenkbar, wenn 
wir eine derartig wirkende Gelegenheitsursache annehmen. Eine Wahrscheinlichkeitsberech 
nung, daß das im Hause verbreitete Contagium von den darin weilenden etwa 68 Personen, 
die großherzogliche Familie mit eingerechnet, immer nur wieder eines der Familienglieder 
anstecken sollte und keine andere Person, spricht ganz eclatant gegen eine solche, jeder Er 
fahrung direct entgegenstehende, vollkommen unüberlegte Annahme. In dem Palais ist es
	        
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