Volltext: Der Naturarzt 1879 (1879)

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Professor Dr. R. Virchow und -ie vegetorianisihe Vrage. 
Bon Gustav Wotöokd. 
Motto: Was kein Verstand der Verständigen sieht rc. 
Da durch den R i k l i'schen Artikel die eigentliche Lebensfrage des Menschen 
wieder vvn Neuem angeregt wurde, so glaube ich recht passend hier die neueste 
Ansicht Virchow' s über die u r s p r ü n g l i ch e N a h rm n g des Menschen 
folgen lassen zu dürfen, in der sicheren Erwartung, daß auch hierdurch erst 
recht keiner von unseren Leuten in seiner gewonnenen Ueberzeugung sich 
irre machen lassen wird, da bekanntlich der große Berliner Gelehrte und 
Naturforscher in dieser Frage, so wenig wie in der Impfsrage, die erste 
Geige spielt, die entscheidende Stimme hat, sondern Jeder immer noch seinen 
eigenen Verstand auch ein wenig walten lassen darf und soll!! Virchow 
sagt in der „Deutschen Rundschau" III. Jahrgang, Heft 7 über 
„die Nahrung des Menschen der Urzeit" wörtlich Folgendes: 
„Unter den Glaubenssätzen der Vegetarianer ist der oberste der, dass der 
Mensch, seiner Organisation und seiner Natur nach, ein Pflanzenfresser sei. 
Daher soll die pflanzliche Nahrung die einzig wahre und naturgem ässe Nahr 
ung darstellen. Der Mensch stehe darin dem Affen, namentlich dem Menschen ähnlichen 
Affen, ganz nahe. Leider hat die neuere Beobachtung mehr und mehr gelehrt, dass auch 
die menschenähnlichen Affen durchaus keine Kostverächter in Bezug auf 
thierische Nahrung sind, dass sie vielmehr mit Eifer Eier, junge Thiere und eine 
Menge niederer Geschöpfe auch im freien Zustande verzehren. Noch weniger finden 
wir unter den Naturvölkern die gewünschten Vegetarianer. Gerade die „natürlichsten“, 
oder die von unserer Cultur am meisten entfernten, die Botokuden, die Buschmänner, 
die Australier, sind ausgemachte Omnivoren, Allesfresser, die den Genuss auch 
der ekelhaftesten Amphibien und Gliederthiere nicht verschmähen und für die ein 
gutes Stück Eieis eh der höchste Leckerbissen ist. Der wahre Vegetaria 
nismus ist kein ursprünglicher Zustand der Menschheit, 
sondern im Gegentheil ein ganz spät gewonnener. Solche Vege- 
tarianer, wie sie der Brahmanismus zeigt, sind erst möglich geworden, seitdem der 
Ackerbau die Mittel der Ernährung in einer Fülle darbietet, wie sie die Natur 
nirgends freiwillig zur Verfügung gestellt hat. Und daher ist Vegetaria 
nismus nicht die naturgemässe Lebensweise, sondern eine künst 
liche Lebensweise, für welche , mit Ausnahme einiger kleiner Coralleninseln 
der Südsee, kaum ein einziges Beispiel unter den Naturvölkern aufgewiesen werden 
kann. Und selbst von den Bewohnern dieser Inseln, Polynesiern von malayischer 
Herkunft lässt sich mit grösster Wahrscheinlichkeit darthun, dass ihre Voreltern 
eingewandert sind mit anderen Bedürfnissen und Gewohnheiten, und dass erst nach 
und nach, zumeist aus Mangel an anderer Nahrung und unter Her- 
absinken zu niederer Cultur, ein Vegetarianismus bei ihnen zur Entwickelung ge 
kommen ist, der übrigens stark gemischt ist mit Ichthyophagie (Fischfresserei). 
„Nein, der Mensch der Urzeit war kein Vegetarianer. Man 
würde wahrscheinlich der Wahrheit viel näher kommen, wenn man sagte, er sei 
vorwiegend Carnivor (Fleischfresser) gewesen. Um Fleisch zu gewinnen, 
musste er nicht sofort ein Jäger oder Fischer sein, obwohl er Beides sicherlich schon 
sehr früh geworden ist. Die Küsten des Meeres bieten noch heute, zumal in warmen 
Strichen, eine Fülle von Muscheln, Krebsen und anderen Seethieren dar, welche 
ungemein leicht zu fangen sind; die Sümpfe und Flüsse des Landes sind reich an 
' Schildkröten und anderen unschwer zu erreichenden Amphibien; wer Raupen und 
Spinnen und Käfer nicht verschmäht, wird so leicht in keinem Walde Hungers 
sterben. Das ist in Wirklichkeit die Nahrung vieler Naturmenschen, und wenn aus 
ihnen mit der Zeit Fischer und Jäger mit höheren Zielen geworden sind, so darf man 
doch nicht übersehen, dass Fischerei und Jägerei nur Fortbildungen dieses wahrhaften 
Naturzustandes waren. Erst aus der Jägerei konnte sich das Hirtenleben 
entwickeln, und wiederum erst der Hirte konnte ein wirklicher und wahrhaftiger 
Ackerbauer werden.“ 
Und an einem anderen Orte hat derselbe Gelehrte früher geäußert: 
„Ob die Thiere ursprünglich dazu erschaffen worden sind, vom Menschen ge 
gessen zu werden, ist mir nicht ganz klar; wenigstens giebt es keinen historischen Rechts-
	        
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