Volltext: Der Naturarzt 1879 (1879)

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Dichtung und Wahrheit in -er Heilkunde. 
Nach einer Vorlesung im Gewerbehause in Dresden 
am 4. November 1878 
von med. Dr. "jS'aus Memeyer in Bcrli n,*) 
herz. m e i n i n g. Sanitätsrath. 
Die Heilkunde ist uralt, aber dennoch ist sie erst auf dem Wege zur 
Wahrheit, wie neulich Prof. H e l m h o l tz, der berühmte Physiolog, in seinem 
Vortrag: „Das Denken in der Medicin" ausgesprochen. Dies zeigt sich gerade 
an der Entwickelung des Begriffes „Krankheit". Nach der ältesten Vor 
stellung ist Krankheit ein vom gesunden durchaus verschiedener Körper- 
zustand , der durch ungewöhnliche k ü n st l i ch e Mittel gehoben („ ge 
heilt") werden müsse. Die Krankheit ist ein böser Geist, den der Priester 
oder Zauberer austreibt. Im Mittelalter schuf Paracelsus den Lehrsatz, 
daß die Erde in Säften, Wässern, Mineralien für jede Krankheit ein untrüg 
liches Mittel biete, das die Wissenschaft nur aufzufinden habe. Mit dem 
Fortschritt der Wissenschaft kamen nach diesen Scheidekünstlcru und „Medi 
kastern" die Anatomen und Physiologen, welche die Naturgeschichte des ge 
sunden und kranken Körpers aufstellten und erkannten, daß zwischen Gesundheit 
und Krankheit ein wesentlicher Unterschied nicht bestehe. Es ergab sich, daß 
von künstlicher Behandlung, wenigstens der inneren Krankheiten, nicht 
mehr die Rede sein könne, es zeigte sich, daß bei rein abwartendem „exspecta- 
tivem Verhalten" die sogenannten Krankhcitszustände weit rascher und günstiger 
verliefen, als bei der früheren Behandlung mit „höllischen Latwergen", 
Aderlässen u. dgl. Auch H ahne mann, der Homöopath, gab zwar dem 
receptsüchtigen Volke noch seine Mittel, seine „Nichtse", bewies aber damit 
zugleich, daß sich auch ohne Arznei Wirkung trefsiich kuriren läßt. Auch 
die Wiener Schule unter Führung Rokitanzki's lehrte nur die Natur 
geschichte der Krankheit und empfahl „Nich tv er sehr eib en" , während die 
norddeutsche Schule (Virchow) zum Theil sich wieder auf ein Experi 
mentiren mit Arzneimitteln legte, bald Digitalis (Fingerhut), bald Chinin, 
Opium und neuerdings Salicyl über alles rühmte. 
Als Bahnbrecherin auf dem Wege zur vollen Wahrheit ist die hy 
gienische oder gcsundheitslehrerischc Schule anzusehen, die „Naturheil 
kunde". „persönliche Gesundheitspflege". Sie stellt der Frage nach dem Kuriren 
der Krankheit die nach Erhaltung der Gesundheit voran, ihr ist die 
wichtigste Aufgabe, die Menschen zu lehren, wie sie sich vor Kranksein behüten 
können, der Entstehung der Krankheit nachzuspüren, jenen Fanatismus zu be 
kämpfen, als ob die Krankheit den Menschen von außen anfliegt, oder 
ohne sein Verschulden von innen entspringt oder angeboren ist. Sie weist 
nach, daß, wenn der Mensch einmal krank wird, er sich selbst allemal krank 
gemacht haben muß. wie sich Krankheit entwickelt aus täglichen kleinen Sünden 
wider die Gesundheit, die dann scheinbar auf einmal hervorbrechen, wen« sie 
sich gehäuft liaben. Die Frage: „Was dem Patienten fehle?" be 
antworten wir: „Es fehlt ihm gesundhcitsgemäße Lebensweise"; 
darin liegt zugleich unser Recept zur Heilung. Freilich, ein Recept ohne ge- 
*) Anmerkung. Der in Berlin bestehende Zweigverei« für volks 
verständliche Gesundheitspflege hat von Neujahr'1879 au Herrn P. 
Niemeyer, den bisherigen Dozenten der Heilkunde am der Universität L e i p- 
z i g, M BereinSarzt zunächst auf drei Jahre angestellt; derselbe hat diese Stellung 
mit der Verpflichtung angenommen, jährlich für dem Verein sechs WenIIiche 
Vortrüge und wöchentlich ein paar mal für die Berems»itglieder freie Sprechstunden z» halten.
	        
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