Volltext: Der Naturarzt 1878 (1878)

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Regeln abhängig, sondern geradezu von unfaßbarenLaunen und Will 
kür l i ch k e i t e n beherrscht wird! Historisch der Ortografi auf den 
Grund gegangen, ergibt sich, daß im Gotischen, Althochdeutschen nichts von 
einem Deuungszeichen h, von d t, von Doppelvokalen und andern Künsteleien 
vorkommt, eben so wenig die großen Anfangsbuch st üben und die 
jetzigen deutschen Lettern bekannt waren, — sondern dis Alles ein Werk 
müßiger Stunden der zweibeinigen Schreibmaschinen des Mittelalters — der 
Mönche ist, welche nicht genug Buchstaben anbringen konnten, um ire vile 
Zeit auszufüllen und noch etwas Apartes haben wollten, um ire Buchstaben- 
malerci in Helles Licht zu setzen, daher die eckige, verschnörkelte sog. 
deutsche Schrift, welche aber nur eine mönchische Verzerrung und 
K a r i k i r u n g der einfachen, antiken, lateinischen ist, in welcher schon unser 
klassisches Nibelungenlid geschriben wurde. 
Dise Kerle schriben zur Glanzzeit des ortografischen Zopfes ganz unver 
froren: ga nutz, unndt, Thugendt, Liendte, eynn, nyemandt, 
rayczend, Thischthuech, geseufftzt, Schlifft, Wolffspeltz re. 
Wie gefällt Dir das, liber Leser? Wie lächerlich und unpraktisch kommen 
uns heute dise alten Wortformen mit irem unnützen Buchstabenzopf vor und 
— wer lacht da? — geradeso werden einst unsre Nachkommen über unsern 
heutigen Schreibezopf sich wundern — oder haben wir villeicht 
keinen? — Wäre es da nicht vil vernünftiger, wir würden dise mittelalterlichen 
Schriftreliquien liber gleich selbst wegwerfen, den Zopf selbst abhauen und die 
Vorteile, die daraus entstehen, für uns selbst einheimsen? Es ist auch garnicht 
zu verkennen, daß ein gewisser Läuterungsproceß schon seit Jarzenten stattfindet 
und langsam die Ausscheidung unnützer Buchstaben in unsrer Ortografi vor sich 
geht; aber warum nochmals Jarzente oder noch länger warten, bis endlich eine 
vollständige sistematische Lautschrift zu Stande gekommen ist, da 
wir dis, wenn wir nur wollen, ja in kurzer Zeit gleich s e l b st besorgen 
können? — 
Es kann hir also nicht davon die Rede sein, daß, wie mein v. Freund, der 
berliner Professor, meint, wir uns damit um Dinge kümmern, die uns gar 
Nichts angehen, denn die ortografische Frage ist einmal da, läßt sich gar 
nicht ignoriren, geht jeden Gebildeten ser vil an, und wenn nur 
Jeder seine angeerbte Trägheit überwinden wollte, so würde dise nicht unwich 
tige Frage bälder aus der Welt geschafft, als die orientalische aus der Politik. 
So vil zu meiner Rechtfertigung, daß ich es gewagt, one vorher anzu 
fragen, dise „Rückker zur ursprünglichen Einfachheit" unsrer 
Sprache meinen Lesern näher zu bringen, was für mich ja nur mit weiterer 
Mühe verknüpft ist, welche ich mir füglich ersparen könnte, wenn mir dafür 
statt Dank — Vorwürfe undTadel gespendet werden. Es sind 2 billige 
Schriftchen über dise Schreibreformation erschinen, nämlich: von Rudolf 
Philp — „Zur deutschen Rechtschreibung" und von Moritz Klei 
nert — „Die Reform der deutschen Schreibung", welche ich allen 
meinen Lesern zur Belerung über dises Tema hirmit dringend empfelc. da 
ich hir nicht näher darauf eingehen will; ferner erscheint seit vorigem Jare 
auch eine Zeitschrift, bet. „Reform", Organ des allgemeinen Vereins zur 
Einfürung einer vereinfachten deutschen Rechtschreibung, herausgegeben von 
Dr. Frikke in Wiesbaden, welche aber für den Anfang weniger ansprechen 
dürste, da darin bereits ser radikal aufgeräumt wird. In der deutschen 
Presse ist mir zur Stunde blos der in Frankfurt a. M. wöchentlich 1 Mal 
erscheinende „Aktionär" bekannt, welcher mit lateinischen Lettern gedruckt
	        
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