Volltext: Der Naturarzt 1871 (1871)

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(haben Sie mit den Ihrigen vielleicht eine gemacht?) — kurz, kann ich mit Prin 
zipien Geld verdienen? Nein! Prinzipien sind graue Theorie, Glauben aber, 
Autoritätsglauben ist der Praxis goldner Baum, womit man es zu etwas bringt, 
in der Medizin so gut wie in der Theologie; und wer dem praktischen Arzt oder 
gar den Medizinalkollegien zunruthet, die Impfung fahren zu lassen, der handelt 
ungefähr gerade so klug, wie Einer, der den Bischöfen und Cardinülen zumuthen 
wollte, die Ohrenbeichte oder den Ablaß wegzuwerfen; wo man immer versucht 
hat, den Werth der legitimen Heilkunst zu verkleinern, zu bezweifeln, da haben 
wir immer den Zweiflern die von wirklichen Zahlenverhältnissen belegten Resul 
tate der Impfung als die einzige b e w i e| e n e nützliche That unserer Kunst 
vorzuhalten, die, wenn auch alles Andere Dunst und Rauch wäre, allein hin 
reichte, unsere ganze Wirksamkeit zu rechtfertigen. Und diesen höchsten, vielleicht 
einzigen, bis vor Kurzem unangefochtenen Triumph sollten wir auf das Geplänkel 
einiger medizinischer Freischärler hin fahren lassen? Was wäre dann in unsrer 
ganzen Praxis noch sicher? Wer wollte dann noch Arzt sein? Nein, nein! Wer 
sich einmal zur legitimen Heilkunst, wie sie auf den Universitäten gelehrt, und 
von den Medizinalkollegien vertreten wird, bekennt, der wäre ein Verräther an 
seinem eigenen Glauben und — ja! auch an seinem eigenen Vortheil, wenn er 
eines ihrer wichtigsten Dogmen, nach dessen Umstoßung kein einziges anderes 
mehr sicher wäre, fallen ließe, und wemr er auch selbst nicht recht daran glaubte. 
Was sollte aus der Kirche werden, wenn jeder Priester jedes Dogma, das er 
nicht verdauen kann, vor aller Welt angreifen und das Publikum dagegen auf 
stachen wollte? 
Und was soll die Appellation an Herrn Professor Vierordt? Der ist ja 
Physiologe, und die Heilkunst hat es bereits aufgegeben, physiologisch sein zu 
wollen, wie sie auch mit der Chemie und Physik auf einem etwas gespannten 
Fuß lebt. Wir lassen uns von unsern Hilfswissenschaften ebenso wenig Hof 
meistern, als sich die Theologie von der Philosophie etwas wegdisputiren ließ. 
Was fragen wir nach Beweisen? Was beweisen denn Beweise der Erfahrung 
und Tradition gegenüber? Was hat man nicht schon von anatomischer, physio 
logischer, chemischer und physikalischer Seite gegen Anwendung von Blutentziehun 
gen, Quecksilber und andern Giften vorgebracht? Als ob wir nicht nach wie vor 
stolz auf 1000jährige sogenannte Erfahrung in unserer gerechten Sache fort 
machten ! 
Glaubt nur nicht, daß uns der Jmpfstreit Kopfweh mache; das Geschrei 
wird bald aus sein, da haben wir schon ganz andere Kämpfe durchgekochten! 
Auch wir haben unsere Revolution erlebt; das war noch eine ganz andere Zeit 
Anno 1841, als das physiologische Archiv anfing, uns Gründe und Beweise 
für unser Handeln abzufordern; ja, damals zitterten wir für unsere Rezepte, aber 
wir haben uns ermannt, denn wir sind auch ein wenig Politiker; jeder von uns 
ist so ein kleiner Metternich. Sie wissen ja: „moäieus uaturao minister" heißt >. 
auf gut deutsch: „Jeder Arzt ist von Natur Minister." Aber wir waren schlauer 
als Metternich, wir haben unsere Hauptrevolutionäre stracks zu Professoren, Hos- 
und Medizinalräthen gemacht 
Und Alles und Alles 
Und Alles war wieder gut! 
Selbst das physiologische Archiv hat den etwas revolutionären Beinamen 
„physiologisch" fallen lasten, weil es einsah, daß die legitime Heilkunst nicht so 
wohl „physiologlsch", d. h. nach wissenschaftlichen Grundsätzen, als empirisch, 
d. h. autoritätsgläubig kuriren muß; daher heißt es jetzt nur noch: „Archiv der 
Heilkunde" schlechtweg. — Nun ist der Sieg unser, Niemand verlangt mehr 
wissenschaftliche Berechnung oder gar „Beweise" für die Richtigkeit unseres Ver-
	        
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