Volltext: Der Naturarzt 1870 (1870)

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Und so verhält es sich in der That noch immer. Selbst in den 
gebildetsten Kreisen sind kaum die oberflächlichsten Kenntnisse, das In— 
teresse für die einfachsten hygieinischen und sanitären Fragen zu fin⸗ 
den. Darum blüht selbst in diesen Kreisen das Kurpfuscherthum so 
üppig. Und doch hat wieder andererseits in keinem Gebiete der Heil—⸗ 
wissenschaft der Dilettantismus als so fruchtbringendes Ferment ge— 
wirkt wie in dem Wasserheilverfahren. Es beweist dies zur Genüge 
die Existenz dieses Vereines und der Name, den er führt, obwol ge— 
rade auch hier der Beweise genug vorliegen, wie viel selbst der besten 
Sache ein unvernünftiger, ein zu enthusiastischer Dilettantismus zu 
schaden vermag. Daß aber eine vernünftige Wasseranwendung wirk—⸗ 
lich ein mächtiges, diätetisches, ein wirksames Heilmittel sei, dafür 
läßt Dr. Winternitz zunächst den Volksmund und die alltäglichen, all⸗ 
gemein bekannten Thatsachen sprechen. Wenn beispielsweise der Wie— 
ner sagt: „Das ist ein sauberes Mädel“, so sehen wir es förmlich 
vor den Augen: „ein Mädchen, das sich gewaschen hat“, mit allen 
Attributen körperlicher und moralischer Liebenswürdigkeit. Wir sehen, 
das Volk verknüpft nur halbbewußt mit dem so alltäglichen Waschen 
eine tiefere, wichtigere, über die blos reinigenden Eigenschaften des 
Wassers hinausgehende Bedeutung, und so ward denn auch schon 
längst von allen Reformatoren auf religiösem Gebiete irgend eine hy— 
dropathische Prozedur mit dem Ceremoniel ihres Kultus verknüpft. 
Bei den gewöhnlichsten Vorkommnissen, bei alltäglichen Geschehnissen 
verlieren wir durch Gewohnheit den Maßstab der Würdigung. — 
Ursache und Wirkung bedingen einander hier so absolut, daß 
wir sie hinnehmen, ohne uns Rechenschaft über die Vorgänge dabei 
zu geben. So unterschätzen wir den günstigen Erfolg unserer täg— 
lichen Morgenwaschungen. Was aber das Wasser wirklich leiste, er⸗ 
kennen wir erst, wenn wir nicht ganz normal, wenn wir zu wenig 
geschlafen, etwa bis tief in die Nacht debouchirt oder geschwärmt. 
Wir erwachen müde, mit schwerem wüstem Kopfe, trägen Sinnen, 
brennenden, trüben Augen, mit unbehaglich heißer Haut, zerschlagenen 
Gliedern, kurz in jenem Zustande, der gar vielen Herren der Schö— 
pfung unter dem bezeichnenden Namen „Katzenjammer“ bekannt ist. 
Wir treten an den Waschtisch oder tauchen das Eben- oder Uneben— 
maß unserer Glieder in die krystallhellen Fluthen eines kühlen Bades, 
und welche Veränderung ist mit uns vorgegangen! Wir sind nen be— 
lebt, gekräftigt und gestärkt, zu neuer Arbeit, zu neuem Genusse auf—⸗ 
gelegt, kurz wir sind neugeboren. 
Unser Auge hat seinen Glanz wiedererlangt, unsere Haut ist frisch
	        
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