Volltext: Der Naturarzt 1868 (1868)

zu erhalten und ihn zu allen körperlichen und geistigen 
Arbeiten tüchtig und geschickt zu machen, ihm zu bieten, 
was er zu seines Leibes Nahrung und zu seines Geistes 
Bedürfnissen nöthig hat, ihm voll und ganz zu ersetzen, 
was er durch geleistete Arbeit, Thätigkeit und Bewegung 
verbrauchte und ausschied. So die Aussprüche aller Wei— 
sen und Forscher. So aber leider nicht das Thun und 
Treiben und thatsächliche Gebahren der Menschen im All—⸗ 
gemeinen und gar der heutigen sogenannten Gebildeten im 
Besonderen. Sie leben, vorherrschend sinnlichen, mate— 
riellen, nicht aber idealen Genüssen nachjagend. 
Ein Land, ein Clima, das den Menschen befähigt, in 
hm den nothdürftigen Lebensunterhalt dem Boden abzu— 
ringen, bietet auch die Umstände und die Gelegenheit, 
diese nothwendigen Lebensbedürfnisse so zu verkehren und 
umzuwandeln, daß sie mehr als genügenden sinnlichen 
Benuß bieten, daß sie zu einem Genuß-, zu einem 
Reizmittel werden. Schon die Römer fanden bei ihrem 
kindringen in die germanischen, fränkischen und celtischen 
Landschaften die Ur- und Naturvölker verschiedenen un— 
nöthigen, naturgesetzwidrigen und krankmachenden Genüssen 
ergeben (Bier, Meth, Thierfleisch). Dringt aber auf ein 
so schon auf sinnliche Abwege gerathenes Naturvolk gar 
noch die herrschsüchtige Hefe eines bereits allen sittlichen 
vastern und sinnlichen Genüssen ergebenen, dem gänzlichen 
nationalen Verfall nahen Volkes ein und drängt ihm mit 
rziner überreifen, d. i. faulen geistigen Cultur (gesellschaft— 
liche und staatliche Gesetzgebung und Eiurichtung, religiö— 
jen Cultus ꝛc.) auch alle verfeinerte, bis auf die höchste 
Spitze getriebene Sinnenlust und Eß- und Kochkunst auf,*) 
o ist es nicht zu verwundern, wenn es in solchen Völker— 
schaften bald zu einem allgemeinen leiblichgesundheitlichen 
Verfall kommt und wenn mit solch leiblichem Verfalle ein 
allgemeiner sittlicher, staatlicher und gesellschaftlicher ein— 
hergeht. Nur in einem gesunden Leibe kann ja eine ge— 
unde Seele wohnen und nur in einem leiblich gesunden 
Volke können sich gesunde sittliche, staatliche und gesell— 
schaftliche Ideale verwirklichen. „Mensch, was kann dir 
die Freiheit frommen, was die Krone, wenn das Siech— 
thum in deinen Adern kriecht?“ Pest, Blattern und Aus— 
'atz decimirten die europäischen Völkerschaften, geistliche 
ind weltliche Despotie schwangen ihre verderbenden Gei— 
zeln und in solchem heillosen Stadium wurden die Thore 
hon zwei, drei neuen Welttheilen geöffnet mit allen ihren 
Schätzen, die sie bieten an materiellem Reichthum und 
sinnlichen Genüssen und Reizmitteln. Gierig und heiß— 
hungrig, lüstern wie ein schwaches, unzurechnungsfähiges 
Kind, stürzte sich das reiche und arme Europa über jene 
Länder und Völker her, die einen, um zu herrschen, die 
andern, um zu genießen, alle aber, um auf dem abschüs— 
siigen Irrpfade vorherrschender Sinnlichkeit und Selbstsucht 
nit eiligeren Schritten als bisher fortzuwandeln. Die 
Genuß⸗ und Reizmittel des Ostens und Westens, die Ge— 
würze, die betäubenden Getränke, Opium und Tabak und 
die Syphilis, — sie bürgerten und fraßen sich ein in die 
Gaumen und Leiber der Europäer trotz lange und ein— 
dringlichst erlassener Verbote einsichtsvoller weltlicher und 
geistlicher Machthaber, und sie vergifteten bis in die tief— 
zinsamsten untersten Häuser und Hütten, was bis dahin 
sich noch des Siechthums und der Sünde erwehrt hatte. 
Damit aber war auch das europäische Volk zur Ent— 
vicklung und Einbürgerung der medicinischen Giftzunft 
herangereift. 
Ein unmündiges Kind beansprucht elterliche Pflege und 
ittliche und geistige Erziehung; ebenso unterzieht sich ein 
ioch politisch (staatlichj unmündiges Volk (oder auch ein 
taatlich wieder unmündig gewordenes Volk) willig der 
ꝛeitung seiner Einsichtsvollsten, Besten, Vor-⸗ oder Für⸗ 
iehmsten (Fürsten). So das Volk in seinen staatlichen 
Hesammtinteressen, so der einzelne Bürger in verschiedenen 
»esonderen Privatinteressen. Willig und gegen besondere 
ind meist reiche Vergütung, weil des bürgerlichen Rechts 
inkundig und also unmündig, überantwortet er allfällig 
porkommende Rechtsfragen seinem Anwalte oder Fürsprech; 
oillig unterwirft er sich, so lange er noch des Sitten— 
ind Vernunftgesetzes unkundig und also sittlich und religiös 
mmündig, der Führung eines geistlichen: Oberen, seinem 
ßfarrer oder Beichtvater oder Seelenhirten und leistet 
jerne seinen Zehnten dafür; und willig endlich unterwirft 
r sich auch in allen Fragen, die sein körperliches Wohl 
hetreffen, meist freilich erst dann, wenn dieses auf die 
Neige oder in die Brüche zu gehen droht, d. i. bei aus— 
zebrochener Krankheit, der Führung seines Arztes, — so 
ange und so weit er auch in dieser Beziehung noch un— 
undig und unmündig ist, sich noch nicht auf eigenen 
Füßen genügend sicher stehen wähnt; für diese Führung 
verden vom leiblich unmündigen Volke noch jährlich Mil— 
iarden gesteuert in Form von ärztlichen Honoraren, Apo— 
hekerrechnungen und Bade- und andern Kuren. 
Es sind Viele, gar Viele, die da meinen, politisch 
chon mündig zu sein und einer fürstlichen Führung nicht 
mehr zu bedürfen; Viele auch sind da, namentlich heut 
zu Tage, die da meinen, auch schon sittlich und religiös 
nündig geworden zu sein; leiblich unmündig sind aber 
gahezu noch Alle, und erst die allerersten Anfänge beginnen 
ich zu zeigen von einem Erwachen des Volkes des 19. 
Jahrhunderts und seiner hochgepriesenen Bildung aus der 
Sclaverei medicinischer Bevormundung und ihrer Ursache 
— leiblicher Genußsucht, Verweichlichung und Verkom— 
nenheit. J 
Der Mensch, instinctiv verdorben, mit seinem Natur— 
zesetze in Widerspruch, in seinen leiblichen Bedürfnissen 
ruf Abwege gerathen, muß solche Widersetzlichkeit büßen 
— mit Krankheit, Siechthum, Verfall und Tod. Das sind 
die Strafen der Natur. „Nur durch unmittelbare 
Folge straft fie“ — ruft uns Göthe, einer der exak— 
esten Natur- und Menschenkenner, zu. Der Mensch aber 
‚aßt und flieht die Krankheit, er will nicht leiden, auch 
elbst gerecht nicht leiden. Unkundig in den leiblichen 
Naturgesetzen und unmündig, wie er ist, sieht er keinen 
nneren, logischen, vernunft- und naturgemäßen Zusam— 
nenhang zwischen seinem genußlichen Irrthum, seiner diä— 
zetischen Sünde und der freilich oft erst lange nachher ge— 
solgten Krankheit; und wie er also die Ursache seines 
deidens, seiner Krankheit statt in sich außer sich sucht,*) 
** 
—⏑⏑ — — „Krankheiten kommen von Gott,“ sagt man wohl; ja frei⸗ 
) Man vergleiche Hahn, Prakt. Handbuch J, S. 127 u ff. lich, aber nicht willkürlich, sondern durch den Widerspruch, in wel⸗—
	        
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