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Neuborn ritt lieber nach des Tages Last und Arbeit hinüber
ins Landstädtchen oder saß bei der Cigarre und einem ge
müthlichen Solo mit dem Pastor und Schulmeister, auch bis
weilen dem Chirurgus, in dem recht stattlichen Dorfwirthshaus,
als daß er zu den gelieferten Büchern hätte greifen mögen.
So vergingen Jahre; drei Pärchen waren in der Familie
Neuborn vollzählig geworden und der jüngste Knabe, Fränz-
chen, hatte schon drei Winter erlebt, als das Weihnachtsfest
(1854) kam, von dem wir zu Eingang erwähnten, daß es
6 blühende, glückliche Kinder um den glänzenden Tannenbaum
herumjubeln hörte. Die Eltern saßen seelenvergnügt auf dem
Sopha, und selbst die alternde Großmama, welche eigentlich,
seit Emilie so viel und selbst im Stalle die Nase in die frem
den Bücher steckte, etwas rückhaltend und hie und da sogar
kalt gegen sie geworden war, selbst die Großmama schaute
von ihrem bequemen Stuhle am^Ofen und von ihrem Tisch
chen davor, auf dem die treue, braune Kaffeekanne und ein
Teller mit, einem mächtigen Stück Stollen stand, gar hellen
Auges jetzt nach dem freudigen Tollen der Kinder hin. Eins
nach dem andern wurde gemustert und in seiner besonderen
Art, die Freude kundzugeben, beobachtet und kritisirt. Siehe,
da fehlte kein theures Haupt! — Und wenige Wochen später,
— wie sah cs da in dem glücklichen Kreise aus?
An dem diesem Weihnachtsfeste folgenden Neujahrsmor
gen suchte Neuborn nach einem Wirthschafts-Contobuch, wel
ches verlegt zu sein schien; alle Fächer hatte er bereits um
sonst durchstöbert; nur im oberen Aufsatz von Emiliens Se-
cretair konnte es vielleicht noch vermuthet werden. Emilie
war nicht im Zimmer, aber die Fachthüre war unverschlossen
und mechanisch ergriff Neuborn, nachdem er sie geöffnet, das
erste, oberste unter den mehreren dort liegenden Büchern. Er
schlügt es auf und ist ganz.,verdutzt, den Titel zu lesen: An
leitung zur Ausübung der Wasserheilkunde für
Jedermann, der zu lesen und zu denken versteht,
von I. H. Rausse, Zweite Abtheilung „die Be
handlung der acuten Krankheitszeichen". Sein
Auge bleibt auf den Worten „acute Krankheitszeichen"
wie festgebannt haften; sie werden größer diese Worte, und
immer größer vor seinen Augen, bis das Buch der Hand
entfällt und der Leser leichenblaß in die Arme Emiliens fällt,
die, eben in's Zimmer getreten, gerade noch Zeit genug kommt,
den ohnmächtigen Gatten aufzufangen und auf's Sopha zu
bringen. — Ob zwischen der Gegenwart und Zukunft geistige
Gewalten den Faden des Zusammenhanges spinnen und hie
und da vor dem Auge des Menschen den Schleier lüften, der
ihm das Kommende verdeckt — wer weiß es? wer will es be
haupten, wer aber auch mit Grund es leugnen?!
(Schluß in Nr. 2..)
Drei naturärztlich geheilte Fälle von Chorea
St. Viti, (Veitstanz)
mitgeth. v. G. Wolbold,zeith.Ass.-ArztinTeinach(Würtemberg).
Als Veitstanz bezeichnet die medizinische Wissenschaft
eine meist fieberlose, mit Fortdauer des vollen Bewußtseins
einhergehende Krampfkrankheit*) der willkürlichen Muskeln,
*) Anm.er kung. Unter Krampf versteht man eine widernatür
liche und unzweckmäßige, meist sehr heftige und ganz gegen den Willen
des Kranken geschehende Zusammenziehung der Muskeln irgend eines
Theils des menschlichen Körpers. Diese Znsammenziehung ist ent-
durch welche ungewöhnliche und seltsame Bewegungen der
Glieder oder des Rumpfes, Kopses, Gesichtes absichtslos oder
geradezu der Absicht des Kranken zuwider ausgeführt werden.
Man unterscheidet 2 Arten desselben — einen kleinen und
einen großen Veitstanz. Weder bei dem einen noch bei dem
andern fand man bis jetzt in den Leichen der daran Gestor
benen eine anatomisch nachweisbare materielle Veränderung
von Belang, welche sich als effective Ursache des Leidens er
klären ließe.
Betrachten wir uns beide Arten etwas näher.
Der kleine Veitstanz, die Muskelunruhe, auch
Narrheit der Muskeln genannt, besteht in allerlei ver
wirrten und unzweckmäßigen Muskelbewegungen, welche wäh
rend des Wachens unausgesetzt wider Willen des
Kranken, ja sogar am lebhaftesten dann, wenn Patient
willkürliche Bewegungen auszuführen versucht, eintreten. In
tiefem Schlafe schweigt der Krampf gänzlich, bei unruhigem
Schlafe dauert er in geringerem Grade fort Die Krankheit
entwickelt sich allmälig, selten tritt sie plötzlich auf, hier und
da nach Schrecken oder sonstigen Gemüthsbewegungen.
Man bemerkt an den Kranken im Gesichte die abscheu
lichsten Verzerrungen der Augenbraunen, Stirnhaut, Nasen
flügel, Lippen, sie schnalzen mit der Zunge oder Lippen wie
die Kutscher; infolge der Zungenunruhe wird die Sprache
stotternd, die Stimme rauh; hart, mißtönend. Der Kopf ist
in beständiger Bewegung, wird auf- und abwärts drehend
von einer Seite zur andern geworfen. Aehnliche Beweglichkeit,
ähnliches Herumwerfen des Rumpfes; im Sitzen rutschen die
Kranken umher, winden sich nach allen Seiten. Die Athembe
wegungen sind keuchend und mit sichtbarer Anstrengung ver
bunden. Am auffallendsten ist die Unruhe in den Gliedmaßen;
die Kranken lassen Alles aus den Händen fallen, bringen den
Löffel auf Umwegen zum Munde und sind oft so unbehülflich,
daß man sie füttern muß. Man kann das eigenthümliche
Schlenkern der Extremitäten mit Nichts besser vergleichen, als
mit denen eines Hampelmännchens. Besser noch machen die
Kranken rasche Bewegungen als langsame. Zuletzt sind die
selben nicht mehr im Stande, sich auf den wie beim Schlitt
schuhlaufen hin- und hergeschleuderten Füßen zu erhalten, tau
meln wie Betrunkene und müssen das Bett hüten. Sehr sel
ten findet man alle diese Symptome gleichzeitig bei Einem
Kranken vereinigt, denn oft ist die Chorea so partiell, daß
nur eine Körperhälfte, nur ein Glied, ja oft nur einzelne
Bewegungsnerven davon befallen find. Die psychische Sen
sibilität dieser Kranken erscheint meist gesteigert; sie erschrecken
bei der geringsten Veranlassung, gerathen leicht in Zorn, lachen
ohne Ursache, werden zerstreut, vergeßlich, eigensinnig.
Trotz der unausgesetzten Bewegungen spüren die Kran
ken keine Ermüdung; dauert das Leiden aber lange, so wird
der Puls beschleunigt und der Kranke magert ab, es tritt ein
Zehrfieber ein. Das Kindesalter bis zur Pubertät, besonders
das weibliche Geschlecht und zarte Constitutionen bei schnellem
Wachsthum, haben eine vorwiegende Anlage dazu, sowie auch
der eigenthümlichen Stimmung des Nervensystems während
dieser Zeit und unserer ganz corrupten diätetischen.Erziehungs
weise als ursächlichem Moment gebührend Rechnung zu tragen
ist. — Nächstdem zählen als Gelegenheitsursachen — Onanie,
Würmer, starke Erkältungen, sowie stärkere Psychische Eindrücke
(Schreck, Angst, Furcht).
weder eine andauernde (tonischer oder Starrkrampf, Klamm) oder eine
ab- und zu nachlassende, ein stoßweises Hin - und Herbewegen
(klonische r, Stoß- oder 'Zuckkrampf, Convulsion).