Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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Neuborn ritt lieber nach des Tages Last und Arbeit hinüber 
ins Landstädtchen oder saß bei der Cigarre und einem ge 
müthlichen Solo mit dem Pastor und Schulmeister, auch bis 
weilen dem Chirurgus, in dem recht stattlichen Dorfwirthshaus, 
als daß er zu den gelieferten Büchern hätte greifen mögen. 
So vergingen Jahre; drei Pärchen waren in der Familie 
Neuborn vollzählig geworden und der jüngste Knabe, Fränz- 
chen, hatte schon drei Winter erlebt, als das Weihnachtsfest 
(1854) kam, von dem wir zu Eingang erwähnten, daß es 
6 blühende, glückliche Kinder um den glänzenden Tannenbaum 
herumjubeln hörte. Die Eltern saßen seelenvergnügt auf dem 
Sopha, und selbst die alternde Großmama, welche eigentlich, 
seit Emilie so viel und selbst im Stalle die Nase in die frem 
den Bücher steckte, etwas rückhaltend und hie und da sogar 
kalt gegen sie geworden war, selbst die Großmama schaute 
von ihrem bequemen Stuhle am^Ofen und von ihrem Tisch 
chen davor, auf dem die treue, braune Kaffeekanne und ein 
Teller mit, einem mächtigen Stück Stollen stand, gar hellen 
Auges jetzt nach dem freudigen Tollen der Kinder hin. Eins 
nach dem andern wurde gemustert und in seiner besonderen 
Art, die Freude kundzugeben, beobachtet und kritisirt. Siehe, 
da fehlte kein theures Haupt! — Und wenige Wochen später, 
— wie sah cs da in dem glücklichen Kreise aus? 
An dem diesem Weihnachtsfeste folgenden Neujahrsmor 
gen suchte Neuborn nach einem Wirthschafts-Contobuch, wel 
ches verlegt zu sein schien; alle Fächer hatte er bereits um 
sonst durchstöbert; nur im oberen Aufsatz von Emiliens Se- 
cretair konnte es vielleicht noch vermuthet werden. Emilie 
war nicht im Zimmer, aber die Fachthüre war unverschlossen 
und mechanisch ergriff Neuborn, nachdem er sie geöffnet, das 
erste, oberste unter den mehreren dort liegenden Büchern. Er 
schlügt es auf und ist ganz.,verdutzt, den Titel zu lesen: An 
leitung zur Ausübung der Wasserheilkunde für 
Jedermann, der zu lesen und zu denken versteht, 
von I. H. Rausse, Zweite Abtheilung „die Be 
handlung der acuten Krankheitszeichen". Sein 
Auge bleibt auf den Worten „acute Krankheitszeichen" 
wie festgebannt haften; sie werden größer diese Worte, und 
immer größer vor seinen Augen, bis das Buch der Hand 
entfällt und der Leser leichenblaß in die Arme Emiliens fällt, 
die, eben in's Zimmer getreten, gerade noch Zeit genug kommt, 
den ohnmächtigen Gatten aufzufangen und auf's Sopha zu 
bringen. — Ob zwischen der Gegenwart und Zukunft geistige 
Gewalten den Faden des Zusammenhanges spinnen und hie 
und da vor dem Auge des Menschen den Schleier lüften, der 
ihm das Kommende verdeckt — wer weiß es? wer will es be 
haupten, wer aber auch mit Grund es leugnen?! 
(Schluß in Nr. 2..) 
Drei naturärztlich geheilte Fälle von Chorea 
St. Viti, (Veitstanz) 
mitgeth. v. G. Wolbold,zeith.Ass.-ArztinTeinach(Würtemberg). 
Als Veitstanz bezeichnet die medizinische Wissenschaft 
eine meist fieberlose, mit Fortdauer des vollen Bewußtseins 
einhergehende Krampfkrankheit*) der willkürlichen Muskeln, 
*) Anm.er kung. Unter Krampf versteht man eine widernatür 
liche und unzweckmäßige, meist sehr heftige und ganz gegen den Willen 
des Kranken geschehende Zusammenziehung der Muskeln irgend eines 
Theils des menschlichen Körpers. Diese Znsammenziehung ist ent- 
durch welche ungewöhnliche und seltsame Bewegungen der 
Glieder oder des Rumpfes, Kopses, Gesichtes absichtslos oder 
geradezu der Absicht des Kranken zuwider ausgeführt werden. 
Man unterscheidet 2 Arten desselben — einen kleinen und 
einen großen Veitstanz. Weder bei dem einen noch bei dem 
andern fand man bis jetzt in den Leichen der daran Gestor 
benen eine anatomisch nachweisbare materielle Veränderung 
von Belang, welche sich als effective Ursache des Leidens er 
klären ließe. 
Betrachten wir uns beide Arten etwas näher. 
Der kleine Veitstanz, die Muskelunruhe, auch 
Narrheit der Muskeln genannt, besteht in allerlei ver 
wirrten und unzweckmäßigen Muskelbewegungen, welche wäh 
rend des Wachens unausgesetzt wider Willen des 
Kranken, ja sogar am lebhaftesten dann, wenn Patient 
willkürliche Bewegungen auszuführen versucht, eintreten. In 
tiefem Schlafe schweigt der Krampf gänzlich, bei unruhigem 
Schlafe dauert er in geringerem Grade fort Die Krankheit 
entwickelt sich allmälig, selten tritt sie plötzlich auf, hier und 
da nach Schrecken oder sonstigen Gemüthsbewegungen. 
Man bemerkt an den Kranken im Gesichte die abscheu 
lichsten Verzerrungen der Augenbraunen, Stirnhaut, Nasen 
flügel, Lippen, sie schnalzen mit der Zunge oder Lippen wie 
die Kutscher; infolge der Zungenunruhe wird die Sprache 
stotternd, die Stimme rauh; hart, mißtönend. Der Kopf ist 
in beständiger Bewegung, wird auf- und abwärts drehend 
von einer Seite zur andern geworfen. Aehnliche Beweglichkeit, 
ähnliches Herumwerfen des Rumpfes; im Sitzen rutschen die 
Kranken umher, winden sich nach allen Seiten. Die Athembe 
wegungen sind keuchend und mit sichtbarer Anstrengung ver 
bunden. Am auffallendsten ist die Unruhe in den Gliedmaßen; 
die Kranken lassen Alles aus den Händen fallen, bringen den 
Löffel auf Umwegen zum Munde und sind oft so unbehülflich, 
daß man sie füttern muß. Man kann das eigenthümliche 
Schlenkern der Extremitäten mit Nichts besser vergleichen, als 
mit denen eines Hampelmännchens. Besser noch machen die 
Kranken rasche Bewegungen als langsame. Zuletzt sind die 
selben nicht mehr im Stande, sich auf den wie beim Schlitt 
schuhlaufen hin- und hergeschleuderten Füßen zu erhalten, tau 
meln wie Betrunkene und müssen das Bett hüten. Sehr sel 
ten findet man alle diese Symptome gleichzeitig bei Einem 
Kranken vereinigt, denn oft ist die Chorea so partiell, daß 
nur eine Körperhälfte, nur ein Glied, ja oft nur einzelne 
Bewegungsnerven davon befallen find. Die psychische Sen 
sibilität dieser Kranken erscheint meist gesteigert; sie erschrecken 
bei der geringsten Veranlassung, gerathen leicht in Zorn, lachen 
ohne Ursache, werden zerstreut, vergeßlich, eigensinnig. 
Trotz der unausgesetzten Bewegungen spüren die Kran 
ken keine Ermüdung; dauert das Leiden aber lange, so wird 
der Puls beschleunigt und der Kranke magert ab, es tritt ein 
Zehrfieber ein. Das Kindesalter bis zur Pubertät, besonders 
das weibliche Geschlecht und zarte Constitutionen bei schnellem 
Wachsthum, haben eine vorwiegende Anlage dazu, sowie auch 
der eigenthümlichen Stimmung des Nervensystems während 
dieser Zeit und unserer ganz corrupten diätetischen.Erziehungs 
weise als ursächlichem Moment gebührend Rechnung zu tragen 
ist. — Nächstdem zählen als Gelegenheitsursachen — Onanie, 
Würmer, starke Erkältungen, sowie stärkere Psychische Eindrücke 
(Schreck, Angst, Furcht). 
weder eine andauernde (tonischer oder Starrkrampf, Klamm) oder eine 
ab- und zu nachlassende, ein stoßweises Hin - und Herbewegen 
(klonische r, Stoß- oder 'Zuckkrampf, Convulsion).
	        
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