Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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Am Montag Morgen legte ich unter Mithülfe des nahe 
wohnenden Kirchendieners, welcher diese Kurmanipulationen 
lernen sollte, den Herrn Pfarrer in die feuchte Wicklung mit 
extra Rumpfumschlag, applicirte noch besondere feuchte Kops 
umhüllung, so daß nur Augen und Nase heraussahen; neben 
an dann den Sohn blos in die einfache feuchte Packung. 
Nach etwa-14 Stunde, innerhalb welcher er am ganzen Leibe 
gut warm geworden, nahm ich letzteren wieder heraus, gab ihm 
eine nasse (12 o) Abreibung mit einigen Uebergießungen und 
ging dann 4 Stunde mit ihm in's Freie promeniren. Nach 
3 Stunden erst nahm ich den im Gesicht ziemlich schwitzenden, 
am ganzen Körper dampfenden Herrn Pfarrer heraus und badete 
ihn in Wasser 18 o warm, bis zum leichten Frösteln ab und 
ließ ihn, den noch etwas ängstlichen und auch verzärtelten 
Mann wieder in's Bett zurückgehen. Als Frühstück bekamen 
Beide süße Milch von ihrer Kuh weg, mit Hausbrod. Gegen 
11 Uhr nahm ich mit Emil gymnastische Uebungen*) vor, an 
welchen ich auch den Herrn Pfarrer sich betheiligen ließ, dem 
ich einige sehr wirksame, ableitende Arm- und Beinbewegun 
gen, sowie Kopfbewegungen zeigte, ferner Hackungen und 
Streichungen der Kinnbacken applicirte, daß die ganze Fa 
milie ihre köstliche Freude daran hatte und zu einer Heilme 
thode Zuneigung bekam, die dem Kranken wie seiner Umge 
bung nächst reeller Hülfe noch Spaß und Freude bereitete, 
und so das Anfangs etwas Anstrengende und Mühe Machende 
derselben gerne vergessen ließ. Das Mittagessen, eine ganz 
einfache Hausmannskost, von Supp', Gemüs' und Fleisch, an 
der ich Nichts auszusetzen fand, schmeckte beiden Patienten, 
namentlich aber dem Herrn Pfarrer, seit langer Zeit zum 
ersten Male wieder herrlich. Nachmittags nahm ich Emil 
abermals auf 1 Stündchen mit in's Freie, und nach 4 Uhr 
ließ ich Beide wieder in die „Wickel" wandern, wo der 
Sohn kürzere, der Vater längere Zeit verweilen mußte, und 
worauf ich Emil ein Halbbad von 18 0 auf die Dauer von 
5 Minuten mit Uebergießungen, dem Vater aber eine triefend 
nasse Abreibung mit abgeschrecktem Wasser und mehrmalige 
Kopfübergießungen gab und wieder bis zur Erwärmung in's 
Bett gehen ließ, während ich mit Emil ein halbes Stündchen 
Gymnastik trieb. Das frugale Abendbrod: ein Milchreis mit 
Apfelmuß, vereinigte bald darauf alle Insassen des gemüth 
lichen Pfarrhauses um den runden Familientisch. Vor Schla 
fengehen legte ich noch beiden Patienten den feuchten Rumpf 
umschlag an, dem Herrn Pfarrer überdies einen feuchten 
Hals- und Kinnbackenverband. Emil hatte an diesem 
ersten Kurtage keinen eigentlichen Anfall, sondern blos zwei 
Mal einen Anlauf dazu, bestehend darin, daß er leichte Zuk- 
kungen in den Extremitäten spürte und einige Minuten heißen 
Kopf hatte; es wetterleuchtete blos, kam aber nicht 
zu Blitz und Donner; diese Nacht ging er, seiner Aus 
sage nach, wieder wie ein Jagdhund zu Bette, und war 
am andern Morgen kaum zum Aufstehen zu bringen, schlief 
auch in der Einpackung gleich wieder weiter. Da sein Stuhl 
gang regelmäßig täglich stattfand, so ließ ich ihn nicht des 
halb, sondern um ein vermeintliches Würmernest auszuheben, 
jedesmal nach demselben einen halben Schoppen 18o Wasser 
sich in den Mastdarm injiciren. Volle 14 Tage untersuchte 
ich nun selbst seine Excremente, konnte aber keine Spur von 
Würmern entdecken; an Onanie war bei diesem Jungen nicht 
zu denken! 
*) Anm. Schon int Winter 1853/54 war ich über ein halbes 
Jahr in Berlin, um bei Sanitätsrath vr. Eulenburg Theorie und Praxis 
der sog. schwedischen Gymnastik kennen zn lernen und mir anzueignen. 
Mit wenig Abänderungen in dieser Behandlungsweise 
(ein paar acute Stürme beim Herrn Pfarrer ausgenommen, 
die dann dem jeweiligen Befinden entsprechend modificirt be 
handelt wurden), fuhr ich beharrlich drei volle Wochen fort, 
und hatte die Freude, den Herrn Pfarrer am 4ten Sonntage 
nach meiner Ankunft, als am 1. Adventfest, wieder seit lan 
ger Zeit zum ersten Male seine Kanzel besteigen zu sehen, 
so gar zwei Mal an diesem Tage; und noch dazu seiner Ge 
meinde selbst das Abendmahl zu geben, ließ er sich nicht neh 
men! Emil hatte in den ersten 14 Tagen noch sechs Mal 
seinen Anfall bekommen, aber lange nicht mehr in dem Grade, 
wie ich den ersten Paroxysmus bei ihm sah; in der letzten 
Woche war er von demselben ganz frei geblieben. Meine 
Mission schien mir daher hier zu Ende, denn das Weitere, 
was noch zu geschehen, konnte auch ohne mich vor sich gehen, 
und für so bekehrt für die neue Heilmethode durch den bril 
lanten Erfolg derselben hielt ich meine Leute, daß sie auch 
nach meiner Abreise consequent befolgten, was ferner mir 
nothwendig für sie erschien. Ich ordinirtc beiden Patienten 
noch mehrere Wochen lang eine allmorgentliche Einwickelung 
mit drei Mal 4 Bad und drei Mal nasser Abreibung (der 
Art, daß an dem Morgen, wo der Vater ein Halbbad hatte, 
der Sohn eine Abreibung bekam und umgekehrt; in so kleinen 
Haushaltungen ist man beschränkt und muß sich somit auch 
der Arzt beschränken!); gymnastische Uebungen Vormittags und 
Nachmittags, täglich längere Spaziergänge, über Nacht den 
feuchten Rumpfumschlag. 
Am 25ten Tage verabschiedete ich mich von den wacke 
ren Pfarrersleuten Nach 14 Tagen erhielt ich die erste 
Nachricht, daß es immer besser gehe, der Herr Pfarrer sein 
Amt gut versehen könne und bei Emil noch kein weiterer An 
fall gekommen sei. Zwei Monate später, im Februar 1856, 
konnte ich mich in persona von dem guten Befinden meiner 
früheren Patienten überzeugen, indem ich Gelegenheit hatte, 
auf einer Tour nach München einen Abstecher nach Stein 
heim, dem neuen Aufenthaltsort derselben, zu machen. Es 
wurde mir da von Allen freudestrahlenden Antlitzes erzählt, 
daß die so sehr gefürchtete, gut 30 Stunden betragende, Um 
siedlung im kalten Wintermonat Januar mit all' den viel 
fachen aufregenden Umständen der Vorbereitung zum Abmarsch, 
während der Reise, sowie denen des Aufzugs und der ersten 
Einrichtung am neuen Orte merkwürdig gut ertragen 
worden sei, ohne weder bei dem Herrn Pfarrer, noch bei Emil 
einen Rückfall herbeizuführen. Und das will was hei 
ßen! Das will selbst erlebt sein, um es richtig beurtheilen 
zu können! Kein Medicinkolben der Welt, nicht vom ge 
schicktesten Paracelsus der Neuzeit verordnet, hätte das be 
wirkt! Drum: „Nieder mit dem Medicinkolben und 
ein Vivat dem Wasser, denn in ihm allein ist 
Heil! sogar im trüben, sauren Donaumooswasser!" 
Zwei und ein halb Jahr später, im Herbst 1859, war es, 
wo ich Vater und Sohn wiedersah; sie waren noch warme 
Verehrer und treue Anhänger unseres Heilverfahrens; der 
Herr Pfarrer läßt sich, sobald er das mmdeste Unwohlsein 
spürt, gewöhnlich aber Freitag und Samstag Nachmittags, feucht 
wickeln und nimmt darauf seine nasse Abreibung, und konnte 
bisher immer — auch im strengsten Winter — seine Predi 
gerfunction ausüben; aus Emil ist ein stattlicher Bursche und 
Kaufmann geworden, der seither nie wieder die leiseste 
Mahnung an sein früheres Leiden erhalten, obgleich er An 
fangs ziemlich angestrengt geistig arbeiten mußte, um das 
viele Versäumte wieder hereinzubringen.
	        
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