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nitz die thierische (Blutwärme) in vielen Fällen zu sehr dem
Patienten entzog, wodurch die Heilung theils verzögert, theils
sogar unmöglich gemacht wurde. Prießnitz arbeitete fast
ausschließlich (?) nur darauf hin, Krankheits- und Arzneistoffe
durch energische Hautreizungen aus den inneren Organen auf
die Hautoberfläche (Peripherie) zu treiben, während Sch roth
durch „feuchte Wärme" die Krunkheitsstoffe zu lösen suchte
und auf den Ausscheidungs-Wegen in Form des Schweißes (?),
des Auswurfes, des Urins und der Stuhlentleerungen zur
Ausscheidung brachte und während dieser Periode nur reizlose
Ernährung ohne Neublutbildung bis zur Reinigung zuließ und
darum Ruhe bei wenig Bewegung beobachtete, während Prieß
nitz kräftige Nahrung, außerdem viel Bewegung in frischer Luft
verordnete. Es ist hieraus wohl erklärlich, daß Beide je nach
der betreffenden Individualität in den einzelnen Krankheits
Erscheinungen das Ziel der vollkommenen Heilung erreichten
und daß beide Naturärzte durch die mitunter an Wunder
gränzenden Erfolge fanatische Verehrer und Anhänger fanden.
Die Tausende von Heilresultaten auf dem Gräfenberg (Prießnitz)
und in Lindewiese (Schroth) lassen sich nicht Wegdisputiren.
Das extreme Fortsetzen des Prießnitz'schen und
Schroth'schen Heilverfahrens hatte, wenn auch das betref
fende Leiden der Patienten beseitigt war, in vielen Fällen
aus sehr natürlichen Gründen den Nachtheil, daß den soge
nannten Prießnitzianern die Wärme und den Schrothianern
die Kälte zuwider, ja sogar nachtheilig war, bis Jeder selbst
im Verlaufe der Zeit den rechten goldenen Weg der Mittel-
straße fand und erst dann wirklich gesund war.
Diese Beobachtung und Erfahrung scheint zunächst den
Gesundheits-Apostel der „Gartenlaube", Herrn Professor Dr.
Bock, auf das Princip des Warmverhaltens durch Unterjäck
chen, Bauchbinden und wollene Strümpfe geführt zu haben.
— Nach klarem Menschen- Verstände ist aber ein Mensch,
welcher lebenslänglich zu diesen Bedeckungen und zu solcher
vorsichtigen Gesundheits-Pflege verurtheilt ist, nicht gesund und
so übel dran, als jene, welche durch Kurzsichtigkeit gezwun
gen sind, stets die Brille auf der Nase zu tragen. So
wie nun aber für Kurzsichtige das Brillentragen unerläßlich
ist, um zu sehen, so ist auch wohl bei Schwächlichen das
Recept des Dr. Bock sehr probat, aber fast ebenso alt,
als die verfehlte menschliche Kultur und Civilisation der
Menschheit.
In außerordentlichen Fällen, z. B. bei organischen Lei
den und insbesondere bei Lungenleidenden, ebenso in sehr vor
gerückten Jahren, kann das Warmhalten nach Dy. Bock's An
weisung bestens empfohlen werden, aber als Norm ist diese
Vorschrift geradezu verwerflich, und sollten Schwache sich nicht
abhalten lassen, eine vernünftige diätetisch-hydriatische
Kur öfter zu wiederholen und sich wirklich gesund zu machen.
Wenn Herr Dr. Bock Seite 105 im Supplement-Band
vom „gesunden und kranken Menschen" sagt: „Ja er (Dr.
Bock) wäre selbst Jahre lang ein Abhärtungs-Fanatiker ge
wesen, der, trotz aller Abhärtung, doch fortwährend schwä
chere und kränkelte, an bösem Halse, an Husten und Heiser
keit litt, als er sich aber endlich in die Arme der Verweichlichung
warf, kerngesund (!?) wurde und sich nun mit seinen lieben
Jäckchen und wollenen Strümpfen ohne Nachtheil nicht unbe
deutenden Strapatzen aussetzen könne" —• so ist damit wohl
nichts bewiesen und am allerwenigsten: daß der Herr Doctor
ein „gesunder Mensch" ist.
Man sieht aus dem obigen Redesatze, daß der Herr Doc
tor Bock einen sehr bescheidenen Begriff von Gesundheit hat,
indem er sich unter dem Schutze „seiner lieben Jäckchen und
wollenen Strümpfe" — kerngesund nennt. Er gleicht
solchen, welche durch Schmierkuren die Krätze äußerlich über
tünchen. Seinem Exempel aber kann ich gerade das Gegen
theil von meiner Wenigkeit entgegensetzen. Ich wurde ganz
nach Ansicht des Herrn Dr. Bock von frühester Jugend her
angezogen, nämlich nach dem Regime des „Warmverhal
tens". Obwohl von Geburt aus gesund und von „kern
gesunden" Eltern, schwächere und kränkelte auch ich immer,
hätte stets mit Ohren-, Zahn- und Halsschmerz, mit Husten
und Heiserkeit zu thun, war stets im temperirten Zimmer,
durfte nur verstohlener Weise frisches Brunnenwasser trinken,
trug Tag und Nacht „Leibjäckchen" und auch „wollene Strümpfe"
— aber trotz - alledem und alledem war ich stets leidend, bis ich
endlich eine „Wasserkur a la Prießnitz" durchmachte und mich
dadurch der Art abhärtete, daß ich jetzt — 58 Jahre alt —
weit gesünder und - „abgehärteter" bin, als in meiner
Leibjäckchen- und Wollen-Strumpf-Zeit.
Ich bin aber deshalb kein „Fanatiker", wie Herr
Bock sich bezeichnet, und will durchaus nicht jeden Mann und
jede Frau dictatorisch bestimmen, gerade mit sich so zu ver
fahren, als ich es gethan, obwohl die Art und Weise des
Lebens bei KaltBaden, Kalt-Wassertrinken und bei möglichst viel
Bewegung weit Vernunft-, also naturgemäßer ist, als die Ein
puppungs-Methode und die „Warm-Wasser-Kur" von
Dr. Bock in der „Gartenlaube".
Herr Dr. Bock mißt auch dem methodischen „heiß-mög
lichen Wassertrinken" alle Eigenschaften der Wirksamkeit
bei, welche das frische, lebenbethätigende Quellwasser bei ra
tionellen Wasser-Kuren bewirkt. «Ich und hundert Andere
mit mir haben (ich z. B. an mir selbst im Jahre 1849) die
Cholera mit kaltem Wasser vollkommen, ohne die mindesten
Nachwehen geheilt, und ich frage nur, was wohlthuender in der
brennenden Fieberhitze bei Cholerafällen ist: mit frischem Quell
wasser oder mit heißem (Spül-) Wasser sich den Durst zu
löschen? —
Es scheint, Herr 'Professor Dr. Bock beabsichtigt nur
von seinem Standpunkte aus eine gewisse Originalität errin
gen zu wollen; indem er aber mit Recht allen „Aberglauben"
verwirft, streift er mit seinem „heißen Wasser-Trin
ken" und „Warmwasser-Kuren" selbst hart an die
Grenze des Aberglaubens.
Seiko 99 in dem Supplementbande zum „gesunden
und kranken Menschen" lesen wir unter Anderem Fol
gendes:
„Wer soll also heißes Wasser trinken?"
1) Wer am Magen, besonders am Magenkrampfe und
überhaupt an langdauernden Magenbeschwerden leidet. 2)
Wer von Unterleibsleiden (Leberleiden natürlich mit einge
schlossen), von Verstopfung und Hämorrhoiden heimgesucht ist. —
3) Wer zu viel Fett und Fleisch auf seinem Leibe in Folge von
vielem, guten und fetten Essen bei Mangel an Bewegung
hat; überhaupt die, denen dickflüssiges Blut in den Adern
rinnt, also auch Solche, die bei sogenannter Vollblütigkeit über
Kopfschmerz, Schwindel, Ohrensausen und Herzklopfen zu kla
gen haben.- — 4) Wer ein verunreinigtes Blut auszuwaschen
(sie) hat, und das kann ebenso bei hitzigen, fieberhaften, wie
langwierigen, fieberlosen Leiden der Fall sein, wie bei Wech
selfieber, Typhus > Rheumatismus, Gicht. — 6) Wer irgend
wo im Harnapparate sich nicht gesund weiß. — 7) Wer den
bösen Folgen einer Erkältung zuvorkommen will."