Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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also hier nicht vorhanden. Außer dem Arzte der benachbar 
ten Gerichtsstadt waren nacheinander mehrere Aerzte Augs 
burgs und Münchens consultirt und Alles angewandt wor 
den, was jene gelehrten Herren verschrieben hatten! Die 
Chorea aber blieb hartnäckig, und ihre Anfälle kehrten immer 
wieder! Bom Wasserheilverfahren war bis dato noch keine 
Kunde hierher gelangt, nur weil die Noth so dringend war, 
entschlossen sich die guten Leute, wenngleich mit schwerem 
Herzen, dazu, brieflich durch Verwandte darauf aufmerksam 
gemacht. 
Hier war also Gelegenheit, das Evangelium vom rein 
sten Wasser zu predigen! Aber du lieber Gott, was für ein 
Wasser gab es hier! Ich traute meinen Augen kaum, als 
ich am nächsten Morgen, wie gewohnt, mein Glas Wasser 
nüchtern zu mir nehmen wollte. Ich mußte mich förmlich 
zwingen zum ersten Schlucke, so trüb und pfützenartig sah es 
aus, und wie schmeckte es erst dem verwöhnten Wassergaumen! 
—• In diesem Donaumoos mit seiner meilenlangen, mehrere 
Klafter tiefen Torfdecke giebt es nämlich keine laufende Brun^ 
neu, gespeist von Quellen, sondern die Leute graben neben 
ihren einzeln dastehenden Häusern je einen 10—12 Schuh tie 
fen Cylinder, von verschiedenem Durchmesser, mauern dessen 
Wände ringsum mit Steinen aus und — der Brunnen ist 
fertig; denn Zu allen Fugen dringt das Wasser ein und füllt 
ihn nach und nach an, und solches Wasser ist recht, muß recht 
sein für Mensch und Vieh, denn ein anderes giebt es nicht 
auf Meilen in der Runde, und mit solchem Wasser mußte ich 
nun auch nolens volens vorlieb nehmen, und mit solchem 
Torf- oder vegetabilischen, d. h. mit organischen Bestandthei 
len gemischten Wasser mußte nun auch kurirt werden! Und 
warum nicht? sollte der Stoff, der andere Leute bis dato ge 
sund erhalten, nicht im Stande sein, Kranke wieder gesund 
zu machen, zumal da bei näherer Untersuchung das Wasser 
vom Brunnen weg ziemlich viel Kohlensäure (kleine Perlen 
am Rande des Glases beim Stehenlassen) und auch die be 
lebende Frische zeigte, sowie die Temperatur Nichts zu wün 
schen übrig ließ, 8" R. im Winter; der Geschmack war zwar 
säuerlich, doch gewöhnte ich mich auch hieran; die Farbe war 
in's Grünliche schillernd. Wie manche medicinische Brühe, 
von welcher der Arzt wie der Kranke sich Wunder was für 
einen günstigen Erfolg versprechen, ist nichts anderes, als ge 
kochtes Wasser mit etwas Pflanzenschleim und Pflanzensaft, 
ohne die belebende Kohlensäure; nun, hier Hatte ich einen 
Pflanzensast aus dem Laboratorium der Natur, der wirk 
lich Wunder bewirkte! Es war spät geworden, als ich mich 
zu Bette begab, denn ich hatte eine Masse Bedenklichkeiten ab- 
seiten des Herrn Pfarrers, wie seiner ängstlichen und besorg 
ten Gattin, denen eben noch Alles neu war, was unser Heil 
verfahren anbelangt, zu beseitigen, Muth und Trost einzu 
sprechen, daß die Arbeit und Mühe nicht vergeblich sein 
werde, sowie helfen zu berathen, wie man dann Alles nun 
auch recht arrangire, daß das Rad der kleinen Landhaus- 
haltung deshalb nicht ganz aus den Fugen komme. Wahr 
haftig , wenn's nach dem Kopfe der Frau Pfarrerin gegangen 
wäre, dann hätte ich andern Tages lieber gleich wieder aus 
den Weg mich begeben können; es ging hier eben gerade wie 
bei so Vielen,, die an Zahnschmerzen leiden; selbige möchten, 
vor den Thüren der Zahnärzte angekommen, lieber gleich wie 
der rechtsumkehrt machen, und Vielen ist es auch schon pas- 
sirt, daß Sie wieder umkehrten! Am nächsten Tage, als am 
Sonntag, fuhr ich nun aber doch fort, jedoch nicht heim, 
sondern Nachmittags mit der Frau Pfarrerin in das nahe 
gelegene Städtchen, um die zur Kur erforderlichen Utensilien 
theils herbeizuschaffen, theils zu bestellen, so daß am Montag 
Morgen, wenn auch nothdürftig, mit der Kur begonnen wer 
den konnte. Kurz vor dem Mittagstische sah ich dann auch 
den ersten Paroxysmus bei Emil; derselbe war in der That 
merkwürdig und ganz verschieden von dem im ersten Falle 
beschriebenen Geißlinger. Der Kranke, wenn er seine Vorbo 
ten spürte, eilte dem Sopha zu, nahm dann bald den rechten, 
bald den linken Fuß mit beiden Händen und brachte dessen 
Spitze an den Mund, worauf er hineinbiß mit einer Wollust 
und einem Behagen, wie etwa ein junger Hund sich über einen 
gefundenen Knochen her macht, zugleich verschiedene, unartiku- 
lirte Töne von sich gebend; dann ließ er den Fuß wiedrr 
fahren und griff nach einem Sophakissen. biß ebenfalls mehre- 
mal hinein und warf es sofort der nächsten besten Person an 
den Kopf, ob Vater, Mutter oder mir, gleichviel! Alsdann 
legte er sich auf einen Moment der Länge nach auf das Sopha 
ruhig hin, sprang alsbald wieder auf, kletterte über Tisch 
und Stühle, nahm wieder, was er erwischte, biß hinein, 
warf es wieder weg; sodann ging's auf den Boden, laufend 
auf Händen und Füßen, kurzum — wenn ich nicht vom ersten 
Falle her schon vorbereitet gewesen wäre, ganz Ungewöhnliches 
zu sehen, — Staunen und Entsetzen hätten deutlich in meinen 
Mienen ausgedrückt gesehen werden müssen. So aber war 
ich mehr neugierig, als bestürzt, was für Capriolen hier zum 
Vorschein kämen. Etwa 6—8 Minuten mochte die Comödie 
oder, besser gesagt, das Drama gedauert haben — dann war 
Emil wieder der freundliche, liebe Junge, den Jedermann 
gerne haben mußte und Jedermann von Herzen bedauerte, ob 
dieser seiner dämonischen Krankheit! — Weder Würmer, noch 
Onanie, noch Erkältung, noch vorausgegangene besondere acute 
Krankheit konnte ich als nächste Ursache entdecken, wohl aber 
fand ich bei der Mutter ein sehr nervöses Temperament, wel 
ches, auf den Erstgeborenen übergegangen, neben dem schnel 
len Wachsthum, eine besondere Disposition zu Krämpfen her 
vorgerufen haben mochte; den inneren pathologischen Hergang 
konnte ich mir nicht anders erklären, als durch Annahme 
einer gestörten Harmonie der Innervation zwischen Centrum 
und Peripherie, sowie zwischen Sensibilität und Mobilität, 
indem nicht rechtzeitig eine Ausstrahlung und Ableitung des 
Nervenfluidums stattfand, weshalb dann eine besondere Ent 
ladung des Ueberschusses durch die motorischen Nerven und 
deren Organe nothwendig war; was diese Stockung der Nerven- 
fluidumsleitung oder Innervation hervorgerufen, und wie dieser 
Proceß vor sich geht, darüber findet man noch keine genü 
gende Erklärung und Belehrung in den Büchern der Physio 
logen und Pathologen. Der Praktiker ist da ganz aus sich 
allein angewiesen und — er weiß sich zu helfen! Als the 
rapeutische Aufgabe stellte ich mir hier folgende:, Anregung 
der Hautthätigkeit und dadurch der auf derselben spie 
lenden elektrischen Processe, mittelst feuchter Abreibungen, wo 
durch eine regelmäßige centrisugale Ausstrahlung, und somit 
Ableitung und Ausgleichung auf diesem Wege zwischen der 
thierischen und tellurischen Elektricität erreicht werden sollte; 
Beruhigung der durch Geburt geerbten überaus gesteigerten 
Nervensensibilität durch Anfangs lauwarme, Stärkung und 
Abhärtung derselben durch später etwas kühlere Bäder, sowie 
regelmäßige periodische Entladung des Nervencentrums durch 
methodische Anstrengung der motorischen Nerven und ihrer 
Bewegungsorgane, der Muskeln, damit der krankhaft ange 
häufte Nervenstoff immer seine rechtzeitige Ableitung erhalte. 
Der günstigste Erfolg krönte diesen meinen Kurplan!
	        
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