Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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Zu Weihnachten suchte ich Heinrich seine elterliche Hei- 
math mit ihren Freuden möglichst zu ersetzen, was mir auch 
ziemlich gelang. Da ordentliche Witterung ein paar Tage 
vorher eingetreten war, so fuhr ich — Respirator um den 
Mund nicht vergessen! — Nachmittags mit Heinrich nach 
München auf den Dultplatz, wo ein ganzer Wald von Tan 
nenbäumchen um diese Zeit aufgestellt ist. Ich ließ ihn selbst 
eins auswählen, und wir nahmen es gleich mit im Wagen 
nach Brunnthal, was Heinrich viel Spaß machte; ich half 
ihm auch zeitweise es in den folgenden Tagen recht nett aus 
schmücken, und am Christabend zündeten wir die Lichter daran 
an, nachdem ich vorher, von ihm unbemerkt, die von seinem 
Vater für ihn eingesandten Geschenke darunter gelegt hatte. 
Ich glaube, er hat diese seine letzten Weihnachten wenigstens 
nicht ganz freudlos verlebt! 
Am 12. Januar 1857 schrieb mir der Vater: 
„Der Schluß Ihres letzten Briefes vom 4 d. M. erfüllte mich, 
wenn auch meine Hoffnung auf Heinrichs Wiederherstellung nur eine 
sehr geringe war, doch mit tiefer Besorgniß, daß die entscheidenden Tage 
nun immer und schneller näher rücken, wo ich von diesem so innig ge 
liebten Jungen auf immer getrennt werden soll. Es ist mir unendlich 
schmerzlich, daß ich meinem Kinde nicht in meinem eigenen Hause die 
Pflege gewähren kann, die nächst der ärztlichen Behandlung, die ihm 
von Ihrer Seite zu Theil wird, , die wichtigste Heilpotenz ist, weil ich 
den ärztlichen Theil seiner Heilung selbst nach Ihren speciellen Vor 
schriften nicht übernehmen darf. Heinrich spricht keine Klage aus, aber 
mir ist der Gedanke schrecklich, daß der arme Junge, den ich nur Ihrer 
ärztlichen Behandlung anvertrauen mochte, von der Anstaltsküche aus 
so stiefmütterlich behandelt wird Es ist eine Schande (für den In 
haber der Anstaltsküche), daß ein Mensch, der wie ein Vögelchen ißt, 
wie Heinrich, zur Fristung seines Lebens durch bessere Nahrung, als 
ausgekochtes Rindfleisch (von dem Herr F. die Bouillon verzehrt), sich 
Consomm« aus München holen muß oder anderweitige kräftige Nah 
rungsmittel. Glauben Sie, der Nachmittagshusten Heinrichs resultirt 
von dem kraftlosen (?) Mittagsessen, welches ein gesunder Magen wohl 
verarbeiten und für die leibliche Oeconomie verwerthen wag, das aber 
einen schwindsüchtigen Menschen nicht auf die Beine bringt, im Ge 
gentheil, indem es nicht verdaut werden kann, die Schleimerzeugung 
bewirkt, welche durch Würgen und Husten überwunden werden soll. 
Man gebe dem Jungen eine kleine Portion gute, frische Rindfleisch- 
brühe/ keine lange Wassersuppe, ein kleines Stück saftigen Braten oder 
ein weiches Pi, und das Würgen wird ein Ende nehmen. Ich will's 
ja dem Herrn F. gerne extraordinair bezahlen, da ich einmal in seinen 
Fingern bin. Ich habe es dem Heinrich geschrieben, daß er sich na 
mentlich eine gute Tasse frisch bereitete Rindfleischbrühe für sein eige 
nes Geld zubereiten lassen solle; er wird aber wohl nicht den Muth 
haben, darauf den Antrag zu machen, den man ihm auch wohl ander 
weitig stark aufs Kerbholz setzen würde, da in ihm ein unzweideutiges 
Mißtrauensvotum gegen die F'sche Küche gefunden werden würde. 
Wären wir doch erst glücklich in den Mai: ich würde den Jungen 
nach der Havannah schicken, wenn er sich allein Helsen könnte, so muß 
man auf den Südwind und Molken hoffen! Wie geht es mit seiner 
Körperfülle? Hat er bedeutend abgenommen ? Er-schreibt mir, daß 
er viel Sediment (Niederschlagt im Urin habe. Das ist bei der Tu 
berkulose ein übles Zeichen. Wenn es mit ihm unzweifelhaft bergab 
geht, dann wollen wir ihn nicht mit vielen Proceduren plagen und 
nur so viel thun, als nöthig ist, nm die Hoffnung der Genesung wach 
zu halten. Aber geben Sie mir zeitig Nachricht, daß ich ihm nicht 
fehle, wenn seine letzte Stunde herannnaht, er wird vieler Pflege als 
dann bedürfen! Hat man in München evangelische graue Schwestern, 
die sich seiner annehmen könnten? Schenken Sie mir in Ihrem 
Nächsten reinen Wein ein, so bitter er mir auch schmecken werde. - Ich 
werde zwar im April eine neue Wohnung beziehen müssen, werde mich 
Eigensinn besaß. Ich wollte haben, daß er nach dem Halbbade sofort 
wieder auf eine halbe Stunde in's Bett zurückgehe, um sich gut wie 
der zu erwärmen und hernach erst seine Caries-Verbände mache, bei 
welchen er immer ungebührlich lange verweilte und sich erkältete. 
Er folgte aber nicht, sondern setzte sich 3/4 Stunde lang, blos mit 
einem Trockenleintuch umhüllt, hin, um sein Dutzend feuchter Lein 
wandflecken an den verschiedenen Körperstellen mit der scrupulösesten 
Accuratesse zu appliciren, wobei er jede Hälse verschmähte. 
aber doch so einrichten, daß ich in diesem Monat in M. sein kann. 
Bis dahin schonen Sie keine Mittel, um Heinrich die angemeffene Nah 
rung und Pflege zu Theil werden zu lassen. Wenn Molken gut an 
gewendet wären, so kann man sie ja machen; Sie müssen nicht glau 
ben, daß Molkengenuß eine Sünde gegen das Nat-rrheilprincip wäre; 
denn wäre das richtig, dann müßten die Patienten auch nur rohes 
Fleisch, ungekochtes Gemüse und Früchte essen (?)." 
Der Oberhofkriegsrath wieder hinten und vornen! Ich 
will dem liebenden Vater, der für sein krankes Kind besorgt 
ist, es keineswegs verdanken, wenn er hie und da eine Be 
merkung sich erlaubt; allein ich frage wohl billig: worin be 
steht denn das Vertrauen zu einem Arzte? Etwa darin, daß 
man alle seine Verordnungen bekrittelt' und sich weiser und 
erfahrener dünkt, als er, oder daß man denselben eine Zeit 
lang ruhig gewähren läßt? Und dennoch in jedem Briefe 
Commando über Kommando, wie dies, und jenes besser ge 
macht werden solle? Was sollen Molken, der Rest der 
Milchbestandtheile nach Abzug von Käse und Butterstoff, einem 
Menschen helfen, der gut genährt werden soll, wie der Vater 
auf jeder Zeile seiner Briefe ja haben will? was das cornu 
cervi nsti, auf deutsch: gebranntes Hirschhorn, als Ersatz für 
die durch Caries zerstörten Knochen und Gelenke? Wenn die 
Dyskrasie einmal solche Fortschritte gemacht, wie bei Heinrich, 
dann helfen auch solche specielle, diätetische Mittel keinen Deut 
mehr, wenn sie überhaupt je einmal was genützt haben. Was 
frommt überhaupt dieses fieberhafte Gebühren des Vaters, der 
bald hier, bald dort falsche Theorieen und Hypothesen auf 
stellt und das ganze Krankheitswesen seines Sohnes von An 
fang an gänzlich verkanüt hat? Was ich bei Heinrich zu 
thun hatte, darüber war ich mir von vornherein klar, und 
der Erfolg bestätigte auch die Richtigkeit meiner Ansichten 
und — meines Heilverfahrens! Hätte der gescheidte Mann 
mir nur seinen Sohn im September nicht fortgenommen und 
alle möglichen unsinnigen Experimente zu Hause mit ihm ge 
trieben, dann wäre es gar nicht so weit mit ihm gekommen; 
die angeregte geschonte Lebenskraft wäre Herr über alle Nach 
theile der Winterwitterung geblieben und andern- Frühlings 
hätte weiter operirt werden können. So aber soll, was das 
„Gescheidterle" verschuldet, ein Anderer rasch wieder gut 
machen, und da das eben naturgesetzlich nicht möglich, so 
muß bald da, bald dort ein Fehler gemacht worden sein, den 
das 100 und mehr Stunden entfernte hochweise Wiener Ober- 
hofkriegsraths-Collegium natürlich ganz genau kennt! 0 si 
tacuisses! 
Am 30. Januar schrieb der Vater: 
„Die Nachricht über den Zuwachs an Krankheitserscheinungen 
beim Heinrich machte mich aus einige Tage im höchsten Grade un 
ruhig und verzweifelnd an einem guten Ausgang seiner Kur, bis mich 
der Gedanke, daß das Oedem an seinem Linken Fuße vielleicht eine 
Folge der Frühjahrsaufregungen im Körper oder Folge der Winter- 
Kälte sei und seiner kranken Lunge eine heilsame Ableitung bereiten 
werde, in Etwas beruhigte. Wie macht es sich denn mit ihm? Spre 
chen Sie frei von der Leber weg! Sie wissen ja, daß ich auf das 
Schlimmste gefaßt bin! Heinrich hat mir Aussicht eröffnet auf eine 
mir von Ihrer Seite zukommende Rectification meiner Vermuthung 
über seine Appetitlosigkeit und Verschleimung: ich bezweifle, daß Ihnen 
eine solche gelingen möchte; ich habe wiederholt meine Erfahrung dar 
über gemacht. Heinrichs Verdauung liegt darnieder; er muß also leicht 
verdauliche Nahrungsmittel genießen, da er besonders bei einer Was 
serkur mehr Stoff consumirt. Nun ist aber die nahrhafte Milch schwe 
rer zu verdauen, als schlechte, die ihm wiederum Nichts nützen kann, 
ihrer Gehaltlosigkeit wegen; hieraus geht die Nothwendigkeit hervor, 
sich nach einem anderen Nahrungsmittel umzusehen, und dies haben 
wir in guter Fleischbrühe. Siehe Bock's Buch vom gesunden und 
kranken Menschen Seite 255, 293 rc., 287, Zeile 47 von oben rc. In 
deU angeführten Stellen finde ich meine Rechtfertigung. Ich habe 
allerdings bemerkt, daß Heinrich hier iy D. nach dem Genusse von
	        
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